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Jörg Baberowski (Autor)

Der Feind ist überall: Stalinismus im Kaukasus [Gebundene Ausgabe] Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Zeitgeschichte islamische Kaukasusrepubliken Bolschewiki Kaukasusrepublik (2003)

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ISBN: 9783421056221 bzw. 3421056226, vermutlich in Deutsch, Deutsche Verlags-Anstalt, gebundenes Buch.

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Deutsche Verlags-Anstalt, 2003. 2003. Hardcover. 22,7 x 15,9 x 4,8 cm. In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt und Tübingen gemeinsam verbrachte. Vieles, was in und zwischen den Zeilen steht, geht auf ihre Anregungen zurück. Für Zuspitzungen und Provokationen, ohne die dieser Text nicht auskommen konnte, bin ich selbst verantwortlich. Dietrich Geyer, der sich der Mühe unterzog, das ganze Manuskript zu lesen, danke ich für seine hilfreiche Kritik und die zahlreichen, anregenden Gespräche, die uns immer wieder zusammenführten. Ingrid Schierle und Margit Schneider sei Dank gesagt für die freundliche Atmosphäre, die sie im Tübinger Institut verbreiteten, Eberhard Müller, daß er nicht darin nachließ, die philosophische Dimension des historischen Arbeitens in Erinnerung zu rufen. Manfred Hildermeier, Dieter Langewiesche, Udo Sautter und Martin Zimmermann lasen das Manuskript als Gutachter. Ihre Kritik half mir, über die Konzeption des Buches neu nachzudenken. Michael Hochgeschwender schulde ich Dank für die gemeinsam veranstalteten Seminare, die mir die Welt jenseits des Atlantiks näherbrachten und die Sicht auf meinen eigenen Gegenstand schärften. Ohne die Hilfe von Maike Lehmann, die den gesamten Text durchsah, Fehler ausbesserte und Redundanzen beseitigte, wäre ich wahrscheinlich nie ans Ende gekommen. Auch ihr gilt mein herzlicher Dank. Claudia Weber, Susanne Schattenberg und Malte Rolf, meinen Kollegen in Leipzig und Berlin, danke ich für anregende Gespräche und die emotionale Unterstützung, die sie mir in den letzten zwei Jahren zuteil werden ließen. Mehr als sie es wahrscheinlich ahnen, haben mich die Studenten am Historischen Seminar der Universität Leipzig inspiriert. Sie gaben mir die Gewißheit, keiner nutzlosen Sache das Wort zu reden. In Petersburg half mir Vladimir V. Lapin, als er noch Direktor des Rußländischen Staatlichen Historischen Archivs war, mich im Dickicht der Dokumente zurechtzufinden. Niemand aber hat darin einen größeren Verdienst als Andrej Doronin, für dessen Aufopferung und Freundschaft Worte zu klein sind. Ohne seine Hilfe hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Dank sei auch den Mitarbeitern des Staatlichen Historischen Archivs der Republik Azerbajdzan in Baku, Zimma Babaeva und Fikret Aliev gesagt, die trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen sie leben und arbeiten mußten, alles taten, um mir bei meinen Nachforschungen zu helfen. Monika Schunder, Franziska Exeler, Manuela Putz und Natalja Stüdemann halfen bei der Anfertigung des Registers und hielten mich in meinem ersten Semester in Berlin bei guter Laune. Auch ihnen gilt mein herzlicher Dank. Daß aus dem Manuskript ein schönes Buch wurde, verdanke ich Stefan Ulrich Meyer von der Deutschen Verlags-Anstalt. Er opferte seine Weihnachtsferien, um aus einem wissenschaftlichen Buch ein lesbares zu machen. Ohne die Liebe meiner Frau Shiva aber wäre alles nichts. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Berlin, Mai 2003 Einleitung 'Der Feind ist überall. Der Feind ist im Kino, im Theater, in den Lehranstalten, in der Literatur, in den Behörden, in der Lebensweise, an allen Ecken und Enden gibt es feindliche Elemente.' Mit diesen Worten beschrieb der erste Sekretär der Azerbajdzanischen Kommunistischen Partei Ali Hejdar Karaev, wie er über die Wirklichkeit dachte, als er am 9. März 1929 zu den Delegierten des neunten Parteitages über die Kulturrevolution im sowjetischen Orient sprach. Wo Differenz und Ambivalenz, die Pluralität von Lebensstilen aufschienen, zeigte sich ihm nicht nur abweichendes Verhalten. Hier wurden für ihn Feinde, die sich in der Lebensweise der Untertanen verbargen, ans Licht der Welt gebracht. Es war die Aufgabe der Kommunisten, diese Feinde zu beseitigen. Macht ist eine Wirkung, die in Netzen zirkuliert, im Medium der Sprache, des Rituals und des Symbols. Macht tritt aber nur dort als Wirkung auf, wo sie sich in der Lebenspraxis des Alltags von selbst zur Anwendung bringt, wo sie nicht nur erduldet, sondern auch weitergegeben wird. Der totalitäre Entwurf lebte von der Vorstellung einer Macht, die alle Zweige des Gesellschaftskörpers durchströmte und in Bewegung hielt, Menschen beseelte und veränderte. Denn dort, wo die Macht 'an die Individuen rührt, ihre Körper ergreift, in ihre Gesten, in ihre Einstellungen, ihre Diskurse, ihr Lernen, ihr alltägliches Leben eindringt', konnte sich Fremdzwang in Selbstdisziplinierung verwandeln. 'Die Macht geht durch das Individuum, das sie konstituiert hat, hindurch', so hat Foucault zu bedenken gegeben. Macht war kein bloßer Reflex der Produktionsverhältnisse. Es waren die Bolschewiki selbst, die dem soziologischen Reduktionismus eine Absage erteilten. Die bolschewistische Unterstellung, im Verlauf der Geschichte werde der Mensch durch wahres Wissen zu sich selbst finden und mit der Entfremdung auch die Geschichte aufheben, schöpfte aus dem messianischen Sendungsbewußtsein der Revolutionäre. In diesem Sinn war der Bolschewismus eine säkularisierte Erlösungsideologie, die Partei sein Messias. Das Proletariat war keine soziologische Kategorie, sondern ein 'fortgeschrittener' Bewußtseinszustand. Proletarier zu sein, hieß, die Sprache der Bolschewiki zu sprechen, ihre Kleidung zu tragen und ihre Feste zu feiern. Nur so wird der Eifer verständlich, mit dem die neuen Machthaber allenthalben die Einübung von Diskursen, Praktiken, Moden und Attitüden, die Erziehung des neuen Menschen betrieben. Wo es gelang, die Kultur des neuen Menschen in die Alltagsrituale und den Sprachstil der Untertanen einzupflanzen, zeigte sich den Bolschewiki der Triumph ihrer Mission. Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Macht formiert sich stets gegen Widerstände, und sie zeigt sich auch nur dort, wo Widerstand aufscheint. Sie kann sich weder totalisieren noch selbst kontrollieren. Es ist das hinter Masken verborgene Individuum, das dem Disziplinierungsentwurf der Herrschaft seinen Eigensinn entgegensetzt, die Macht herausfordert und sich so stets neu konstituiert. In der frühen Sowjetunion zeigten sich die Wirkungen der bolschewistischen Macht nur ausnahmsweise, im städtischen Milieu der Intelligenz. Im Abseits, in den Dörfern und an der Peripherie des Imperiums, blieben die Ansprüche der Revolutionäre unvermittelt. Hier koexistierten parallele Netze der Macht, die einander nicht berührten. Für die Bolschewiki symbolisierte die Vielfalt nicht miteinander verbundener Unterwerfungstechniken Unordnung, Anarchie und Barbarei. Die moderne Welt, so wie die Bolschewiki sie verstanden, war übersichtlich und eindeutig. In ihr konnte es nur eine Technik der Auslegung und der Disziplinierung geben, und diese vertraten die neuen Machthaber selbst. Es ist stets übersehen worden, daß der stalinistische Terror aus einem Denkstil schöpfte, der menschliches Handeln in eine Teleologie der Erlösung einordnete und Ambivalenz als Widerstand von Feinden deutete. Und diese Deutung ergab sich aus der Konfrontation eschatologischer Heilserwartungen mit widerständigen Realitäten. Denn es mißlang den Bolschewiki, in der Unterwerfung konkurrierender Weltauslegungen eine Sprachlosigkeit herzustellen, die 'durch ihr eigenes Stummbleiben Schweigen gebietet'. Die hegemoniale Kultur übte keine Wirkung aus. Sie konnte die Kultur der Untertanen in der öffentlichen Inszenierung ihrer Ansprüche marginalisieren, aber sie vermochte sie nicht zu überwinden. Und deshalb zeigte sich in den Beziehungsnetzen des Alltags auch nicht die Macht des kommunistischen Diskurses. Die hegemoniale Kultur war ein hermetisches Bedeutungsgeflecht, das nicht über sich hinauswies und in dem die Bolschewiki heillos verfangen blieben. Was ein kultureller Austausch hätte werden können, wurde unter diesen Bedingungen zu einem Zwangsumtausch, der den Unterworfenen abverlangte, sich ihrer Kultur vollständig zu entledigen. Man könnte, was Karaev als Verhältnis von Feinden beschrieb, auch als verfehlte Zusammenkunft oder als Dialog zwischen Tauben bezeichnen." 'Es sind die undurchschauten Vorurteile, deren Herrschaft uns gegen die in der Überlieferung sprechende Sache taub macht', wie es Gadamer gesagt hat. Die Bolschewiki standen in einer Tradition, die ihre eigenen Vorurteile als voraussetzungslose Traditionslosigkeit ausgab. Dieses Denken, das vom Erbe der Auflärung mehr enthält, als mancher glaubt, unterstellte, die Welt könne vorurteilsfrei angeschaut und ihrer Mythen entkleidet werden. Wer nicht sah, was auch die Aufklärer sahen, bewies nur, daß er im Reich der Finsternis lebte. Je rückständiger und fremder sich die Umwelt in der Wahrnehmung der Bolschewiki präsentierte, desto größer war die Bereitschaft, sie mit Gewalt von ihrem Leiden an der Unvollkommenheit zu erlösen, Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. In seiner extremsten, bolschewistischen Variante triumphierte das Verlangen nach Eindeutigkeit und Homogenität in blutigem Terror. 'Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens, ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren - und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte. Intoleranz ist deshalb die natürliche Neigung der modernen Praxis. Konstruktion von Ordnung setzt der Eingliederung und der Zulassung Grenzen. Sie verlangt nach der Verneinung der Rechte - und der Gründe - all dessen, was nicht assimiliert werden kann - nach der Delegitimierung des Anderen', wie Zygmunt Bauman über das moderne Streben nach Eindeutigkeit geurteilt hat. Die Bolschewiki brachten ihre zivilisatorische Mission nicht aus dem Nichts hervor. Sie setzten fort, was ihre Vorgänger in der zarischen Bürokratie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Werk gesetzt hatten. Nur wäre es den Bürokraten des Zaren in ihrem Bemühen, Europa nach Rußland zu bringen und Lebensverhältnisse zu 'zivilisieren', nicht in den Sinn gekommen, die Barbarei mit den Mitteln der Barbarei aus der Welt zu schaffen. Sie wollten die 'Wilden' stattdessen durch aufgeklärtes Zureden vom Leiden an der Rückständigkeit erlösen. Die Bolschewiki indessen erlagen dem Wahn, es müßten Feinde vernichtet werden, um kulturelle Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. So aber führte der Kulturkonflikt in die unablässige Terrorisierung von Lebensverhältnissen. Der Stalinismus brachte sich aus dem Konflikt zwischen unverstandenen Welten hervor, im Zentrum wie an der Peripherie. Er war ein Zivilisationstyp, der im gewalttätigen Versuch, kulturelle Renitenz zu überwinden, zu sich kam. Das ist es, was Karaev meinte, als er davon sprach, der Feind zeige sich in der Lebensweise des Alltags. Darin lag die zerstörerische Potenz der stalinistischen Gewaltherrschaft: daß sie an der Stabilität der Lebensverhältnisse keinen Gefallen fand. Sie erschöpfte sich stattdessen in der unablässigen Terrorisierung der Bevölkerung, in der Zerstörung von Ordnung. Der Stalinismus war deshalb nicht die Überwindung einer 'schönen' Utopie, wie Richard Stites in seinem Buch über die revolutionären Träume in der frühen Sowjetunion behauptet hatte, sondern ihre eigentliche Vollstreckung. Was hier zur Sprache kommt, handelt von den kulturellen Ursprüngen des stalinistischen Terrors, wie er die Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre prägte. Ich beschränke mich darauf, diesen Zusammenhang exemplarisch, am Beispiel jener Auseinandersetzung zu beschreiben, die sich zwischen den Ordnungen des bolschewistischen Sozialismus und den Lebenswelten von Muslimen in der Kaukasusrepublik Azerbajdzan entfalteten. Warum Azerbajdzan? Was fernab des Moskauer Zentrums, jenseits des Großen Kaukasusgebirges geschah, sei doch nur eine Marginalie, die eine Erwähnung nicht lohne, so könnte man einwenden. Wer so spricht, verkennt jedoch, daß die Bedeutung eines Gegenstandes aus der Frage kommt, die Historiker an ihn richten. So ist es auch hier. Das Zarenreich und die Sowjetunion waren Vielvölkerreiche, an ihren südlichen Rändern im Kaukasus und in Zentralasien lebten mehrere Millionen Muslime sunnitischen und schiitischen Glaubens. Das Imperium beherbergte mehr als hundert Sprachen und Dialekte, seßhafte und nomadische, städtische und ländliche Lebensformen. Kurz: Das Sowjetimperium bestand nicht allein aus Russen und Slawen, auch wenn dieser Eindruck in der Geschichtsschreibung über das Zarenreich und die Sowjetunion bisweilen erweckt wird. Niemand, weder die zarischen Bürokraten noch ihre bolschewistischen Nachfolger, konnten in ihren politischen Entscheidungen von dieser Vielfalt der Ethnien, Sprachen und Kulturen absehen. Industrialisierung, Verstädterung und Kommunikationsverdichtung brachten Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion miteinander in Berührung. Vielerorts entfachten solche Kontakte Konflikte. Und wo die Staatsgewalt ihren Phantasien von der modernen Welt keine Zügel anlegte, geriet sie am Ende selbst in einen Gegensatz zu jenen, die sie 'russifizieren', zivilisieren oder aufklären wollte. An keinem anderen Ort zeigten sich die Konflikte des Vielvölkerreiches so unerbittlich wie in den muslimischen Kaukasus-Gouvernements Baku und Elizavetpol', die 1918 zur Republik Azerbajdzan verschmolzen. Die östlichen Territorien Transkaukasiens waren ethnisch und religiös heterogen, in ihren Städten lebten Muslime und Christen, Armenier, Türken und Russen neben- und miteinander. Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfaßte die Industrialisierung auch den Rand des Imperiums. Der Olboom verwandelte Baku, das städtische Zentrum der Region, in eine multiethnische Metropole, die sich aus dem Umland heraushob. Jenseits des städtischen Raumes standen seßhafte Bauern gegen Nomaden, Muslime gegen russische Siedler, Sunniten gegen Schiiten, Tal gegen Tal, Clan gegen Clan. Mit der Ankunft des Zentralstaates in der Region verwandelte sich diese in ein Experimentierfeld, auf dem die aufgeklärten Bürokraten des Zaren ihre Vorstellungen von der modernen Welt verwirklichen wollten. Mit den Beamten des Zaren kamen auch das europäische Recht, die Verwaltung, das Bildungswesen und die mit ihnen verbundenen Wertmaßstäbe an die Peripherie. Weil aber die Einheimischen solcher Bevormundung Widerstand entgegenbrachten, wurde, was als Projekt der Zivilisierung und Modernisierung auftrat, zu einer Diskriminierung und Zurücksetzung der Muslime. Wo Lebensformen kategorisiert und hierarchisiert wurden, traten sie einander nur noch als Ausschließlichkeit entgegen. So war es vor allem in Baku. Die Industriestadt am Kaspischen Meer verwandelte sich in einen Ort der Differenz, der nationalen, religiösen und sozialen Konflikte, die das 20. Jahrhundert beherrschten. Baku wurde zu einem Laboratorium der Xenophobie und der interethnischen Gewalt. Außerhalb der Städte löste die aufgeklärte Ignoranz, das Unverständnis, mit der die Bürokraten des Zaren ebenso wie die Kommunisten den Bauern gegenübertraten, blutige Konflikte aus, die sie am Ende nicht mehr unter ihre Kontrolle brachten. All jene Kulturkonflikte, Gewaltorgien und Katastrophen, wie sie die Sowjetunion der Stalin-Ära auszeichneten - hier liefen sie an einem Ort und zur gleichen Zeit zusammen. Nirgendwo sonst koexistierten die sozialen und kulturellen Zuschreibungen, Lebens- und Wirtschaftsformen, aus denen das Imperium bestand, auf solch kleinem Raum. Azerbajdzan repräsentierte das Imperium en miniature, alle Elemente, die dem Zarenreich und der Sowjetunion Spannung verliehen, waren hier vereint. Stalin und zahlreiche seiner engsten Mitstreiter und Gefolgsleute kamen aus der Kaukasusregion. Berija, Bagirov, Ordzonikidze, Mirzojan, Gikalo, Mikojan und die russischen 'Kaukasier', zu denen neben anderen vor allem Kirov gehörte, waren zweifellos die bedeutendsten Exponenten dieses Netzes. Mit ihnen ergriffen auch die Gewaltkultur der kaukasischen Peripherie, die Blutrache und archaische Vorstellungen von Ehre Besitz von der Partei, im Zentrum wie an den Rändern des Imperiums. So vermischte sich der Gewaltkult der Revolution mit den Gewalttraditionen jener Gesellschaften, die die Bolschewiki aus der Welt schaffen wollten. In den zentralasiatischen und kaukasischen Randzonen des Vielvölkerreiches wurden die Gewaltexzesse, wie sie in den 1930er Jahren in der gesamten Sowjetunion tobten, bereits früh eingeübt. Denn hier trafen die Bolschewiki auf eine Resistenz, die sie nur mit Waffengewalt brechen zu können glaubten. Manche jener bolschewistischen Terroristenkarrieren hatten an der asiatischen Peripherie ihren Ausgang genommen. Als Zivilisationstyp ist der Stalinismus nur in seiner imperialen Dimension verstehbar. Von ihr abzusehen, hieße, den Kontext aus dem Blick zu verlieren, aus dem sich die monströse Gewalt hervorbrachte. Das ist es, was eine Geschichte des Stalinismus im Kaukasus rechtfertigt. Eine Geschichte, die den kulturellen Ursprüngen des Stalinismus auf der Spur ist, begibt sich auf neue Wege. Bislang wurde das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in der westlichen wie der sowjetisch/ russischen Historiographie als Prozeß linearer Modernisierung beschrieben. Die Bolschewiki trafen demnach auf eine rückständige Peripherie und unterwarfen sie notwendiger Modernisierung. Eine solche Einschätzung wird man aber nur dann gewinnen, wenn die Maßstäbe für das Moderne, für das schlechthin Bessere aus den Ansprüchen der Kolonisierer gewonnen werden. Und das ist auch der Grund, warum die Geschichtsschreibung über die Erfahrungen, die vom hegemonialen Diskurs der Bolschewiki verdeckt wurden, Schweigen bewahrt. Sie sprach entweder von der Nationalitätenpolitik des Zentrums oder von den nationalen Programmen islamischer Eliten. Nun erwuchs die koloniale Strategie ebenso wie die Resistenz, die sich ihr entgegenwarf, aus der Begegnung. Wo Fremde einander näherkamen, veränderten sich ihre Vorstellungen vom Anderen. Was ein Russe, ein Armenier, Türke oder Muslim sei, diese Frage mußte im Blick auf das Andere stets neu gestellt und beantwortet werden. Davon aber konnte man in der historischen Literatur über das Zarenreich und die Sowjetunion - von Ausnahmen abgesehen, die sich auf das Zarenreich, nicht aber auf die Sowjetunion bezogen - nur wenig finden. Es waren nicht zuletzt Eric Hobsbawm, Benedict Anderson und Ernest Gellner, die mit ihren teleologischen und eurozentrischen Nationalismusmodellen den Blick der Historiker trübten. In den 1980er und frühen 1990er Jahren warteten sie in unterschiedlichen Varianten mit der Entdeckung auf, Traditionen seien menschliche Schöpfungen (inventions of tradition), Nationen vorgestellte Gemeinschaften (imagined communities). Gellner verstieg sich am Ende zu der Behauptung, die 'kulturellen Fetzen und Flicken, derer sich der Nationalismus bedient', seien nichts weiter als 'willkürliche historische Erfindungen'. 'Jeder beliebige alte Fetzen und Flicken hätte die gleichen Dienste getan.' Anderson sah die Nation als 'eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung einer Gemeinschaft existiert.' Als solche ist sie ein modernes Phänomen, sie ist an die Fähigkeit ihrer Mitglieder gebunden, miteinander über größere Räume hinweg zu kommunizieren und Glaubensbekenntnisse durch Wiederholung alltäglicher Rituale wachzuhalten. Nun spricht aber durch die Texte der Konstruktivisten vor allem die Sehnsucht nach der Überwindung von Nationen hindurch, nach der Widerlegung jener Vorstellung, Nationen seien urwüchsige, über Jahrhunderte bestehende und keinem Wandel unterworfene Gemeinschaften von Gleichgesinnten, deren Glaubenssätze die Wirklichkeit abbildeten. 'Daß Nationen als eine natürliche, gottgegebene Art der Klassifizierung von Menschen gelten - als ein politisches Geschick - ist ein Mythos. Der Nationalismus, der manchmal bereits bestehende Kulturen in Nationen umwandelt, erfindet manchmal Kulturen und vernichtet häufig tatsächlich bestehende Kulturen', wie Gellner es ausgedrückt hat. Zuerst: jede Gemeinschaft, die über einen vis a vis-Kontakt zwischen Menschen hinausreicht, ist vorgestellt. Denn was ist Religion, Stand, Klasse anderes als eine vorgestellte Gemeinschaft, die Menschen vor Stabilitätsverlusten bewahrt. Dann: Menschen sind in Bedeutungsnetzen, symbolischen Ordnungen verfangen, mit deren Hilfe sie ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen ordnen und Struktur in das Chaos des Alltags bringen. Der Mensch entkommt seinen Erfindungen nicht. Er lebt in einem symbolischen Universum, in Sprache, Mythos, Kunst und Religion, seine Erfahrungen sind in ein Symbolnetz eingewebt, aus dem er sich nicht nach Belieben hinausbegeben kann. 'Statt mit den Dingen, hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizelle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.' So hat es der Kulturphilosoph Ernst Cassirer in seinem Traktat über den Menschen 1944 formuliert. Die Behauptung also, die Konstruktion von Nationen beruhe auf Mythen, besagt, daß jenseits der Mythen eine objektive Realität existiere, die von den Nationalisten verzerrt werde. Ein solcher Objektivismus ist freilich nichts weiter als ein vergebliches Unterfangen, die Welt von nirgendwo zu sehen. Zur Beantwortung der Frage, warum und in welchen Formen Menschen sich ihrer selbst vergewissern, trägt diese Suche nach Authentizität nichts bei. Um es mit einem anderen Beispiel zu sagen: Ob der Gott der jüdisch-christlichen Überlieferung existiert oder nicht existiert, ist völlig gleichgültig gegenüber der Tatsache, in welchem Ausmaß die Vorstellung Gottes das Handeln und die Geschichte von Menschen bestimmt hat. Der Politikwissenschaftler Walker Connor verband diese Einsicht mit einer allgemeinen Theorie über Nationswerdung. In ihr sprach er vom Vorrang der Selbstidentifikation gegenüber scheinbar objektiven Kriterien wie Sprache, Territorium usw. Das Selbstbild sei es, die subjektive Selbstbindung des Einzelnen an eine Gruppe und sein Glaube, ihr und keiner anderen anzugehören, aus der sich die Nation hervorbringe. Daß Gemeinschaften konstruiert seien, spreche nicht gegen ihre Existenz: 'What ultimately matters is not what is but what people believe is.' Kurz: Die Dämonisierung der Nation, die aus den Texten der Konstruktivisten auch spricht, ergibt sich aus einem Verfahren, das die Symbolwelten, die nationale Gemeinschaften konstituieren, zu willkürlichen Konstruktionen von Nationalisten erklärt. Nationen sind aber keine Fata Morgana, die sich durch richtige Reflexion wieder auflösen, sie bestehen, solange ihre Mythen im Bewußtsein von Menschen verankert sind und für wahr gehalten werden. 'Traditions may be invented, but they only last if they have resonance.' Handlungsgewohnheiten wurzeln in bereits bestehenden Traditionen, in gemeinsamen Erinnerungen, die nicht willkürlich aus den Menschen durch Agitation hervorgebracht werden können. Der Kulturanthropologe Clifford Geertz sprach von primordialen Codes, von den in der frühen Kindheit vermittelten Gefühlen der Zugehörigkeit zu den nächsten Verwandten, zu einer bestimmten Religion, zu einer besonderen Sprache, zu spezifischen Normen und Bräuchen oder auch zu jener umgrenzten und überschaubaren Örtlichkeit, die man im Deutschen Heimat nennt. Diese Bindungen, so hat Geertz zu bedenken gegeben, seien stärker als jene, die Menschen in späteren Lebensphasen eingehen: Jene aus wirtschaftlichen Interessen und politischen Überzeugungen. Es ist der Appell an diese Gefühle und affektiv besetzten Bindungen, die den Erfolg ethnischer oder nationaler Vergemeinschaftung ermöglichen. Niemand hat diese affektiven Bindungen schöner beschrieben als Alain Corbin in seinem Buch über die Sprache der Glocken im Frankreich des 19. Jahrhunderts. 'Das Lesen der klanglichen Umwelt war damals ein Teil des Prozesses, in dem die Identität, die individuelle wie die kommunitaristische, hergestellt wurde. Das Glockenläuten war die Sprache eines Kommunikationssystems, das nach und nach zerfallen ist. Es regelte nach einem heute vergessenen Rhythmus die Beziehungen zwischen den Menschen sowie die zwischen den Lebenden und den Toten.' Die Amtsträger des französischen Staates hatten die Bedeutung dieses Identifikationssymbols erfaßt, als sie damit begannen, über die Glocke 'als Stimme einer Zentralgewalt zu gebieten, die vom Zentrum des Landes nach allen Seiten ausstrahlte'. Indem der Staat sie für eigene Zwecke instrumentalisierte und das Glockengeläut im weltlichen Kalender verankerte, stellte er das Gedenken in eine neue Tradition. Was Corbin über die Glocken im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts verkündete, hätte auch über den Gebetsruf des Muezzin, der die Gefühlswelt von Muslimen im Kaukasus stimulierte, gesagt werden können. Ethnische und nationale Selbstvergewisserungen beruhen auf Abgrenzung und Ausschluß. Man muß wissen, wer man nicht ist, um ganz bei sich zu sein. Wo unterschiedliche Welten aufeinandertreffen, werden Handlungsgewohnheiten, die im Alltag kaum je auf ihren Sinn hin befragt werden, reflexiv. So wird für eine Muslimin das Kopftuch doch erst dort zu einem Symbol ethnischer Abschließung, wo sie Menschen begegnet, die es nicht tragen und die es für einen Ausdruck von Fremdheit halten. Denn wer den Anderen als Fremden erkennt, sieht in ihm sich selbst. Bilder vom Fremden sind Tauschverhältnisse, in denen sich die Kultur, in der man steht, verändert und neu schöpft. Das gilt um so mehr für jene Situationen, in denen Kulturen einander bekriegen, wie es in kolonialistischen Gesellschaften geschieht, wenn Traditionen von der Kolonialmacht kriminialisiert und marginalisiert werden. Ethnischer Gemeinschaftsglaube besteht aus einer inklusiven und einer exklusiven Komponente, oder anders gesagt: 'Ethnizität provoziert immer Gegenethnizität.' Das ist auch der Grund, warum in Nationalstaaten, die durch kulturelle Homogenisierung die Gesellschaft zu 'modernisieren' und zu standardisieren versuchen, Menschen, die ihre Fremdheit nicht ablegen mögen, marginalisiert und ausgestoßen werden. In Vielvölkerstaaten lösen solche Versuche, Eindeutigkeit herzustellen, gewöhnlich gewalttätige Sezessionsbestrebungen aus. Der Weg in die Kommunikationsgesellschaft führt keineswegs in die Assimilation, wie Connor zu bedenken gegeben hat. Wo Menschen unterschiedlicher Abkunft miteinander in Kontakt geraten, so lehre die Erfahrung, werde der Ethnonationalismus nicht überwunden, sondern aufgerüstet. Wer dem Fremden begegne, ihn näher kennenlerne, werde im Glauben an die Einzigartigkeit der eigenen Gruppe bestärkt. Hobsbawm und seine marxistischen Adepten brachten für die kulturelle Gebundenheit menschlichen Lebens kein Interesse auf. Wo sich ihnen nicht zeigte, was es auch in Europa gab, Staat, Bürokratie, zivile Gesellschaft, bürgerliche Öffentlichkeit, Verfassungen und Parlamente, vermochten sie auch nichts zu entdecken. Eric Hobsbawm fand, Ethnien verwandelten sich nur dort in Nationen, wo sie in einer historischen Verbindung mit einem gegenwärtigen Staat stünden, über eine alteingesessene Elite geböten und die 'erwiesene Fähigkeit zur Eroberung' besäßen. Es ist das Hegelsche Erbe, das aus solchen Urteilen spricht, der Glaube, im Europa der Gegenwart zeige sich jene Zukunft, die dem Rest der Welt noch bevorstehe. Die Legitimation des Abendlandes als einer überlegenen Kultur schreibt sich doch nur von einer Ideologie her, nach deren Anschauung säkularisierte Kulturen nicht säkularen Kulturen überlegen sind. Nur wer diese Ideologie akzeptiert, kommt auch zu dem Urteil, die Überlegenheit des Abendlandes sei eine objektive Wertung. Das Mißverständnis, eine Nation sei nur, was sich in europäischer Verpackung als solche zu erkennen gibt, führt auf Holzwege, die keine Auswege mehr weisen. Kaukasusrepublik In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt u.
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Jörg Baberowski (Autor)

Der Feind ist überall: Stalinismus im Kaukasus [Gebundene Ausgabe] Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Zeitgeschichte islamische Kaukasusrepubliken Bolschewiki Kaukasusrepublik (2003)

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Deutsche Verlags-Anstalt, 2003. 2003. Hardcover. 22,7 x 15,9 x 4,8 cm. In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt und Tübingen gemeinsam verbrachte. Vieles, was in und zwischen den Zeilen steht, geht auf ihre Anregungen zurück. Für Zuspitzungen und Provokationen, ohne die dieser Text nicht auskommen konnte, bin ich selbst verantwortlich. Dietrich Geyer, der sich der Mühe unterzog, das ganze Manuskript zu lesen, danke ich für seine hilfreiche Kritik und die zahlreichen, anregenden Gespräche, die uns immer wieder zusammenführten. Ingrid Schierle und Margit Schneider sei Dank gesagt für die freundliche Atmosphäre, die sie im Tübinger Institut verbreiteten, Eberhard Müller, daß er nicht darin nachließ, die philosophische Dimension des historischen Arbeitens in Erinnerung zu rufen. Manfred Hildermeier, Dieter Langewiesche, Udo Sautter und Martin Zimmermann lasen das Manuskript als Gutachter. Ihre Kritik half mir, über die Konzeption des Buches neu nachzudenken. Michael Hochgeschwender schulde ich Dank für die gemeinsam veranstalteten Seminare, die mir die Welt jenseits des Atlantiks näherbrachten und die Sicht auf meinen eigenen Gegenstand schärften. Ohne die Hilfe von Maike Lehmann, die den gesamten Text durchsah, Fehler ausbesserte und Redundanzen beseitigte, wäre ich wahrscheinlich nie ans Ende gekommen. Auch ihr gilt mein herzlicher Dank. Claudia Weber, Susanne Schattenberg und Malte Rolf, meinen Kollegen in Leipzig und Berlin, danke ich für anregende Gespräche und die emotionale Unterstützung, die sie mir in den letzten zwei Jahren zuteil werden ließen. Mehr als sie es wahrscheinlich ahnen, haben mich die Studenten am Historischen Seminar der Universität Leipzig inspiriert. Sie gaben mir die Gewißheit, keiner nutzlosen Sache das Wort zu reden. In Petersburg half mir Vladimir V. Lapin, als er noch Direktor des Rußländischen Staatlichen Historischen Archivs war, mich im Dickicht der Dokumente zurechtzufinden. Niemand aber hat darin einen größeren Verdienst als Andrej Doronin, für dessen Aufopferung und Freundschaft Worte zu klein sind. Ohne seine Hilfe hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Dank sei auch den Mitarbeitern des Staatlichen Historischen Archivs der Republik Azerbajdzan in Baku, Zimma Babaeva und Fikret Aliev gesagt, die trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen sie leben und arbeiten mußten, alles taten, um mir bei meinen Nachforschungen zu helfen. Monika Schunder, Franziska Exeler, Manuela Putz und Natalja Stüdemann halfen bei der Anfertigung des Registers und hielten mich in meinem ersten Semester in Berlin bei guter Laune. Auch ihnen gilt mein herzlicher Dank. Daß aus dem Manuskript ein schönes Buch wurde, verdanke ich Stefan Ulrich Meyer von der Deutschen Verlags-Anstalt. Er opferte seine Weihnachtsferien, um aus einem wissenschaftlichen Buch ein lesbares zu machen. Ohne die Liebe meiner Frau Shiva aber wäre alles nichts. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Berlin, Mai 2003 Einleitung 'Der Feind ist überall. Der Feind ist im Kino, im Theater, in den Lehranstalten, in der Literatur, in den Behörden, in der Lebensweise, an allen Ecken und Enden gibt es feindliche Elemente.' Mit diesen Worten beschrieb der erste Sekretär der Azerbajdzanischen Kommunistischen Partei Ali Hejdar Karaev, wie er über die Wirklichkeit dachte, als er am 9. März 1929 zu den Delegierten des neunten Parteitages über die Kulturrevolution im sowjetischen Orient sprach. Wo Differenz und Ambivalenz, die Pluralität von Lebensstilen aufschienen, zeigte sich ihm nicht nur abweichendes Verhalten. Hier wurden für ihn Feinde, die sich in der Lebensweise der Untertanen verbargen, ans Licht der Welt gebracht. Es war die Aufgabe der Kommunisten, diese Feinde zu beseitigen. Macht ist eine Wirkung, die in Netzen zirkuliert, im Medium der Sprache, des Rituals und des Symbols. Macht tritt aber nur dort als Wirkung auf, wo sie sich in der Lebenspraxis des Alltags von selbst zur Anwendung bringt, wo sie nicht nur erduldet, sondern auch weitergegeben wird. Der totalitäre Entwurf lebte von der Vorstellung einer Macht, die alle Zweige des Gesellschaftskörpers durchströmte und in Bewegung hielt, Menschen beseelte und veränderte. Denn dort, wo die Macht 'an die Individuen rührt, ihre Körper ergreift, in ihre Gesten, in ihre Einstellungen, ihre Diskurse, ihr Lernen, ihr alltägliches Leben eindringt', konnte sich Fremdzwang in Selbstdisziplinierung verwandeln. 'Die Macht geht durch das Individuum, das sie konstituiert hat, hindurch', so hat Foucault zu bedenken gegeben. Macht war kein bloßer Reflex der Produktionsverhältnisse. Es waren die Bolschewiki selbst, die dem soziologischen Reduktionismus eine Absage erteilten. Die bolschewistische Unterstellung, im Verlauf der Geschichte werde der Mensch durch wahres Wissen zu sich selbst finden und mit der Entfremdung auch die Geschichte aufheben, schöpfte aus dem messianischen Sendungsbewußtsein der Revolutionäre. In diesem Sinn war der Bolschewismus eine säkularisierte Erlösungsideologie, die Partei sein Messias. Das Proletariat war keine soziologische Kategorie, sondern ein 'fortgeschrittener' Bewußtseinszustand. Proletarier zu sein, hieß, die Sprache der Bolschewiki zu sprechen, ihre Kleidung zu tragen und ihre Feste zu feiern. Nur so wird der Eifer verständlich, mit dem die neuen Machthaber allenthalben die Einübung von Diskursen, Praktiken, Moden und Attitüden, die Erziehung des neuen Menschen betrieben. Wo es gelang, die Kultur des neuen Menschen in die Alltagsrituale und den Sprachstil der Untertanen einzupflanzen, zeigte sich den Bolschewiki der Triumph ihrer Mission. Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Macht formiert sich stets gegen Widerstände, und sie zeigt sich auch nur dort, wo Widerstand aufscheint. Sie kann sich weder totalisieren noch selbst kontrollieren. Es ist das hinter Masken verborgene Individuum, das dem Disziplinierungsentwurf der Herrschaft seinen Eigensinn entgegensetzt, die Macht herausfordert und sich so stets neu konstituiert. In der frühen Sowjetunion zeigten sich die Wirkungen der bolschewistischen Macht nur ausnahmsweise, im städtischen Milieu der Intelligenz. Im Abseits, in den Dörfern und an der Peripherie des Imperiums, blieben die Ansprüche der Revolutionäre unvermittelt. Hier koexistierten parallele Netze der Macht, die einander nicht berührten. Für die Bolschewiki symbolisierte die Vielfalt nicht miteinander verbundener Unterwerfungstechniken Unordnung, Anarchie und Barbarei. Die moderne Welt, so wie die Bolschewiki sie verstanden, war übersichtlich und eindeutig. In ihr konnte es nur eine Technik der Auslegung und der Disziplinierung geben, und diese vertraten die neuen Machthaber selbst. Es ist stets übersehen worden, daß der stalinistische Terror aus einem Denkstil schöpfte, der menschliches Handeln in eine Teleologie der Erlösung einordnete und Ambivalenz als Widerstand von Feinden deutete. Und diese Deutung ergab sich aus der Konfrontation eschatologischer Heilserwartungen mit widerständigen Realitäten. Denn es mißlang den Bolschewiki, in der Unterwerfung konkurrierender Weltauslegungen eine Sprachlosigkeit herzustellen, die 'durch ihr eigenes Stummbleiben Schweigen gebietet'. Die hegemoniale Kultur übte keine Wirkung aus. Sie konnte die Kultur der Untertanen in der öffentlichen Inszenierung ihrer Ansprüche marginalisieren, aber sie vermochte sie nicht zu überwinden. Und deshalb zeigte sich in den Beziehungsnetzen des Alltags auch nicht die Macht des kommunistischen Diskurses. Die hegemoniale Kultur war ein hermetisches Bedeutungsgeflecht, das nicht über sich hinauswies und in dem die Bolschewiki heillos verfangen blieben. Was ein kultureller Austausch hätte werden können, wurde unter diesen Bedingungen zu einem Zwangsumtausch, der den Unterworfenen abverlangte, sich ihrer Kultur vollständig zu entledigen. Man könnte, was Karaev als Verhältnis von Feinden beschrieb, auch als verfehlte Zusammenkunft oder als Dialog zwischen Tauben bezeichnen." 'Es sind die undurchschauten Vorurteile, deren Herrschaft uns gegen die in der Überlieferung sprechende Sache taub macht', wie es Gadamer gesagt hat. Die Bolschewiki standen in einer Tradition, die ihre eigenen Vorurteile als voraussetzungslose Traditionslosigkeit ausgab. Dieses Denken, das vom Erbe der Auflärung mehr enthält, als mancher glaubt, unterstellte, die Welt könne vorurteilsfrei angeschaut und ihrer Mythen entkleidet werden. Wer nicht sah, was auch die Aufklärer sahen, bewies nur, daß er im Reich der Finsternis lebte. Je rückständiger und fremder sich die Umwelt in der Wahrnehmung der Bolschewiki präsentierte, desto größer war die Bereitschaft, sie mit Gewalt von ihrem Leiden an der Unvollkommenheit zu erlösen, Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. In seiner extremsten, bolschewistischen Variante triumphierte das Verlangen nach Eindeutigkeit und Homogenität in blutigem Terror. 'Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens, ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren - und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte. Intoleranz ist deshalb die natürliche Neigung der modernen Praxis. Konstruktion von Ordnung setzt der Eingliederung und der Zulassung Grenzen. Sie verlangt nach der Verneinung der Rechte - und der Gründe - all dessen, was nicht assimiliert werden kann - nach der Delegitimierung des Anderen', wie Zygmunt Bauman über das moderne Streben nach Eindeutigkeit geurteilt hat. Die Bolschewiki brachten ihre zivilisatorische Mission nicht aus dem Nichts hervor. Sie setzten fort, was ihre Vorgänger in der zarischen Bürokratie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Werk gesetzt hatten. Nur wäre es den Bürokraten des Zaren in ihrem Bemühen, Europa nach Rußland zu bringen und Lebensverhältnisse zu 'zivilisieren', nicht in den Sinn gekommen, die Barbarei mit den Mitteln der Barbarei aus der Welt zu schaffen. Sie wollten die 'Wilden' stattdessen durch aufgeklärtes Zureden vom Leiden an der Rückständigkeit erlösen. Die Bolschewiki indessen erlagen dem Wahn, es müßten Feinde vernichtet werden, um kulturelle Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. So aber führte der Kulturkonflikt in die unablässige Terrorisierung von Lebensverhältnissen. Der Stalinismus brachte sich aus dem Konflikt zwischen unverstandenen Welten hervor, im Zentrum wie an der Peripherie. Er war ein Zivilisationstyp, der im gewalttätigen Versuch, kulturelle Renitenz zu überwinden, zu sich kam. Das ist es, was Karaev meinte, als er davon sprach, der Feind zeige sich in der Lebensweise des Alltags. Darin lag die zerstörerische Potenz der stalinistischen Gewaltherrschaft: daß sie an der Stabilität der Lebensverhältnisse keinen Gefallen fand. Sie erschöpfte sich stattdessen in der unablässigen Terrorisierung der Bevölkerung, in der Zerstörung von Ordnung. Der Stalinismus war deshalb nicht die Überwindung einer 'schönen' Utopie, wie Richard Stites in seinem Buch über die revolutionären Träume in der frühen Sowjetunion behauptet hatte, sondern ihre eigentliche Vollstreckung. Was hier zur Sprache kommt, handelt von den kulturellen Ursprüngen des stalinistischen Terrors, wie er die Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre prägte. Ich beschränke mich darauf, diesen Zusammenhang exemplarisch, am Beispiel jener Auseinandersetzung zu beschreiben, die sich zwischen den Ordnungen des bolschewistischen Sozialismus und den Lebenswelten von Muslimen in der Kaukasusrepublik Azerbajdzan entfalteten. Warum Azerbajdzan? Was fernab des Moskauer Zentrums, jenseits des Großen Kaukasusgebirges geschah, sei doch nur eine Marginalie, die eine Erwähnung nicht lohne, so könnte man einwenden. Wer so spricht, verkennt jedoch, daß die Bedeutung eines Gegenstandes aus der Frage kommt, die Historiker an ihn richten. So ist es auch hier. Das Zarenreich und die Sowjetunion waren Vielvölkerreiche, an ihren südlichen Rändern im Kaukasus und in Zentralasien lebten mehrere Millionen Muslime sunnitischen und schiitischen Glaubens. Das Imperium beherbergte mehr als hundert Sprachen und Dialekte, seßhafte und nomadische, städtische und ländliche Lebensformen. Kurz: Das Sowjetimperium bestand nicht allein aus Russen und Slawen, auch wenn dieser Eindruck in der Geschichtsschreibung über das Zarenreich und die Sowjetunion bisweilen erweckt wird. Niemand, weder die zarischen Bürokraten noch ihre bolschewistischen Nachfolger, konnten in ihren politischen Entscheidungen von dieser Vielfalt der Ethnien, Sprachen und Kulturen absehen. Industrialisierung, Verstädterung und Kommunikationsverdichtung brachten Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion miteinander in Berührung. Vielerorts entfachten solche Kontakte Konflikte. Und wo die Staatsgewalt ihren Phantasien von der modernen Welt keine Zügel anlegte, geriet sie am Ende selbst in einen Gegensatz zu jenen, die sie 'russifizieren', zivilisieren oder aufklären wollte. An keinem anderen Ort zeigten sich die Konflikte des Vielvölkerreiches so unerbittlich wie in den muslimischen Kaukasus-Gouvernements Baku und Elizavetpol', die 1918 zur Republik Azerbajdzan verschmolzen. Die östlichen Territorien Transkaukasiens waren ethnisch und religiös heterogen, in ihren Städten lebten Muslime und Christen, Armenier, Türken und Russen neben- und miteinander. Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfaßte die Industrialisierung auch den Rand des Imperiums. Der Olboom verwandelte Baku, das städtische Zentrum der Region, in eine multiethnische Metropole, die sich aus dem Umland heraushob. Jenseits des städtischen Raumes standen seßhafte Bauern gegen Nomaden, Muslime gegen russische Siedler, Sunniten gegen Schiiten, Tal gegen Tal, Clan gegen Clan. Mit der Ankunft des Zentralstaates in der Region verwandelte sich diese in ein Experimentierfeld, auf dem die aufgeklärten Bürokraten des Zaren ihre Vorstellungen von der modernen Welt verwirklichen wollten. Mit den Beamten des Zaren kamen auch das europäische Recht, die Verwaltung, das Bildungswesen und die mit ihnen verbundenen Wertmaßstäbe an die Peripherie. Weil aber die Einheimischen solcher Bevormundung Widerstand entgegenbrachten, wurde, was als Projekt der Zivilisierung und Modernisierung auftrat, zu einer Diskriminierung und Zurücksetzung der Muslime. Wo Lebensformen kategorisiert und hierarchisiert wurden, traten sie einander nur noch als Ausschließlichkeit entgegen. So war es vor allem in Baku. Die Industriestadt am Kaspischen Meer verwandelte sich in einen Ort der Differenz, der nationalen, religiösen und sozialen Konflikte, die das 20. Jahrhundert beherrschten. Baku wurde zu einem Laboratorium der Xenophobie und der interethnischen Gewalt. Außerhalb der Städte löste die aufgeklärte Ignoranz, das Unverständnis, mit der die Bürokraten des Zaren ebenso wie die Kommunisten den Bauern gegenübertraten, blutige Konflikte aus, die sie am Ende nicht mehr unter ihre Kontrolle brachten. All jene Kulturkonflikte, Gewaltorgien und Katastrophen, wie sie die Sowjetunion der Stalin-Ära auszeichneten - hier liefen sie an einem Ort und zur gleichen Zeit zusammen. Nirgendwo sonst koexistierten die sozialen und kulturellen Zuschreibungen, Lebens- und Wirtschaftsformen, aus denen das Imperium bestand, auf solch kleinem Raum. Azerbajdzan repräsentierte das Imperium en miniature, alle Elemente, die dem Zarenreich und der Sowjetunion Spannung verliehen, waren hier vereint. Stalin und zahlreiche seiner engsten Mitstreiter und Gefolgsleute kamen aus der Kaukasusregion. Berija, Bagirov, Ordzonikidze, Mirzojan, Gikalo, Mikojan und die russischen 'Kaukasier', zu denen neben anderen vor allem Kirov gehörte, waren zweifellos die bedeutendsten Exponenten dieses Netzes. Mit ihnen ergriffen auch die Gewaltkultur der kaukasischen Peripherie, die Blutrache und archaische Vorstellungen von Ehre Besitz von der Partei, im Zentrum wie an den Rändern des Imperiums. So vermischte sich der Gewaltkult der Revolution mit den Gewalttraditionen jener Gesellschaften, die die Bolschewiki aus der Welt schaffen wollten. In den zentralasiatischen und kaukasischen Randzonen des Vielvölkerreiches wurden die Gewaltexzesse, wie sie in den 1930er Jahren in der gesamten Sowjetunion tobten, bereits früh eingeübt. Denn hier trafen die Bolschewiki auf eine Resistenz, die sie nur mit Waffengewalt brechen zu können glaubten. Manche jener bolschewistischen Terroristenkarrieren hatten an der asiatischen Peripherie ihren Ausgang genommen. Als Zivilisationstyp ist der Stalinismus nur in seiner imperialen Dimension verstehbar. Von ihr abzusehen, hieße, den Kontext aus dem Blick zu verlieren, aus dem sich die monströse Gewalt hervorbrachte. Das ist es, was eine Geschichte des Stalinismus im Kaukasus rechtfertigt. Eine Geschichte, die den kulturellen Ursprüngen des Stalinismus auf der Spur ist, begibt sich auf neue Wege. Bislang wurde das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in der westlichen wie der sowjetisch/ russischen Historiographie als Prozeß linearer Modernisierung beschrieben. Die Bolschewiki trafen demnach auf eine rückständige Peripherie und unterwarfen sie notwendiger Modernisierung. Eine solche Einschätzung wird man aber nur dann gewinnen, wenn die Maßstäbe für das Moderne, für das schlechthin Bessere aus den Ansprüchen der Kolonisierer gewonnen werden. Und das ist auch der Grund, warum die Geschichtsschreibung über die Erfahrungen, die vom hegemonialen Diskurs der Bolschewiki verdeckt wurden, Schweigen bewahrt. Sie sprach entweder von der Nationalitätenpolitik des Zentrums oder von den nationalen Programmen islamischer Eliten. Nun erwuchs die koloniale Strategie ebenso wie die Resistenz, die sich ihr entgegenwarf, aus der Begegnung. Wo Fremde einander näherkamen, veränderten sich ihre Vorstellungen vom Anderen. Was ein Russe, ein Armenier, Türke oder Muslim sei, diese Frage mußte im Blick auf das Andere stets neu gestellt und beantwortet werden. Davon aber konnte man in der historischen Literatur über das Zarenreich und die Sowjetunion - von Ausnahmen abgesehen, die sich auf das Zarenreich, nicht aber auf die Sowjetunion bezogen - nur wenig finden. Es waren nicht zuletzt Eric Hobsbawm, Benedict Anderson und Ernest Gellner, die mit ihren teleologischen und eurozentrischen Nationalismusmodellen den Blick der Historiker trübten. In den 1980er und frühen 1990er Jahren warteten sie in unterschiedlichen Varianten mit der Entdeckung auf, Traditionen seien menschliche Schöpfungen (inventions of tradition), Nationen vorgestellte Gemeinschaften (imagined communities). Gellner verstieg sich am Ende zu der Behauptung, die 'kulturellen Fetzen und Flicken, derer sich der Nationalismus bedient', seien nichts weiter als 'willkürliche historische Erfindungen'. 'Jeder beliebige alte Fetzen und Flicken hätte die gleichen Dienste getan.' Anderson sah die Nation als 'eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung einer Gemeinschaft existiert.' Als solche ist sie ein modernes Phänomen, sie ist an die Fähigkeit ihrer Mitglieder gebunden, miteinander über größere Räume hinweg zu kommunizieren und Glaubensbekenntnisse durch Wiederholung alltäglicher Rituale wachzuhalten. Nun spricht aber durch die Texte der Konstruktivisten vor allem die Sehnsucht nach der Überwindung von Nationen hindurch, nach der Widerlegung jener Vorstellung, Nationen seien urwüchsige, über Jahrhunderte bestehende und keinem Wandel unterworfene Gemeinschaften von Gleichgesinnten, deren Glaubenssätze die Wirklichkeit abbildeten. 'Daß Nationen als eine natürliche, gottgegebene Art der Klassifizierung von Menschen gelten - als ein politisches Geschick - ist ein Mythos. Der Nationalismus, der manchmal bereits bestehende Kulturen in Nationen umwandelt, erfindet manchmal Kulturen und vernichtet häufig tatsächlich bestehende Kulturen', wie Gellner es ausgedrückt hat. Zuerst: jede Gemeinschaft, die über einen vis a vis-Kontakt zwischen Menschen hinausreicht, ist vorgestellt. Denn was ist Religion, Stand, Klasse anderes als eine vorgestellte Gemeinschaft, die Menschen vor Stabilitätsverlusten bewahrt. Dann: Menschen sind in Bedeutungsnetzen, symbolischen Ordnungen verfangen, mit deren Hilfe sie ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen ordnen und Struktur in das Chaos des Alltags bringen. Der Mensch entkommt seinen Erfindungen nicht. Er lebt in einem symbolischen Universum, in Sprache, Mythos, Kunst und Religion, seine Erfahrungen sind in ein Symbolnetz eingewebt, aus dem er sich nicht nach Belieben hinausbegeben kann. 'Statt mit den Dingen, hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizelle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.' So hat es der Kulturphilosoph Ernst Cassirer in seinem Traktat über den Menschen 1944 formuliert. Die Behauptung also, die Konstruktion von Nationen beruhe auf Mythen, besagt, daß jenseits der Mythen eine objektive Realität existiere, die von den Nationalisten verzerrt werde. Ein solcher Objektivismus ist freilich nichts weiter als ein vergebliches Unterfangen, die Welt von nirgendwo zu sehen. Zur Beantwortung der Frage, warum und in welchen Formen Menschen sich ihrer selbst vergewissern, trägt diese Suche nach Authentizität nichts bei. Um es mit einem anderen Beispiel zu sagen: Ob der Gott der jüdisch-christlichen Überlieferung existiert oder nicht existiert, ist völlig gleichgültig gegenüber der Tatsache, in welchem Ausmaß die Vorstellung Gottes das Handeln und die Geschichte von Menschen bestimmt hat. Der Politikwissenschaftler Walker Connor verband diese Einsicht mit einer allgemeinen Theorie über Nationswerdung. In ihr sprach er vom Vorrang der Selbstidentifikation gegenüber scheinbar objektiven Kriterien wie Sprache, Territorium usw. Das Selbstbild sei es, die subjektive Selbstbindung des Einzelnen an eine Gruppe und sein Glaube, ihr und keiner anderen anzugehören, aus der sich die Nation hervorbringe. Daß Gemeinschaften konstruiert seien, spreche nicht gegen ihre Existenz: 'What ultimately matters is not what is but what people believe is.' Kurz: Die Dämonisierung der Nation, die aus den Texten der Konstruktivisten auch spricht, ergibt sich aus einem Verfahren, das die Symbolwelten, die nationale Gemeinschaften konstituieren, zu willkürlichen Konstruktionen von Nationalisten erklärt. Nationen sind aber keine Fata Morgana, die sich durch richtige Reflexion wieder auflösen, sie bestehen, solange ihre Mythen im Bewußtsein von Menschen verankert sind und für wahr gehalten werden. 'Traditions may be invented, but they only last if they have resonance.' Handlungsgewohnheiten wurzeln in bereits bestehenden Traditionen, in gemeinsamen Erinnerungen, die nicht willkürlich aus den Menschen durch Agitation hervorgebracht werden können. Der Kulturanthropologe Clifford Geertz sprach von primordialen Codes, von den in der frühen Kindheit vermittelten Gefühlen der Zugehörigkeit zu den nächsten Verwandten, zu einer bestimmten Religion, zu einer besonderen Sprache, zu spezifischen Normen und Bräuchen oder auch zu jener umgrenzten und überschaubaren Örtlichkeit, die man im Deutschen Heimat nennt. Diese Bindungen, so hat Geertz zu bedenken gegeben, seien stärker als jene, die Menschen in späteren Lebensphasen eingehen: Jene aus wirtschaftlichen Interessen und politischen Überzeugungen. Es ist der Appell an diese Gefühle und affektiv besetzten Bindungen, die den Erfolg ethnischer oder nationaler Vergemeinschaftung ermöglichen. Niemand hat diese affektiven Bindungen schöner beschrieben als Alain Corbin in seinem Buch über die Sprache der Glocken im Frankreich des 19. Jahrhunderts. 'Das Lesen der klanglichen Umwelt war damals ein Teil des Prozesses, in dem die Identität, die individuelle wie die kommunitaristische, hergestellt wurde. Das Glockenläuten war die Sprache eines Kommunikationssystems, das nach und nach zerfallen ist. Es regelte nach einem heute vergessenen Rhythmus die Beziehungen zwischen den Menschen sowie die zwischen den Lebenden und den Toten.' Die Amtsträger des französischen Staates hatten die Bedeutung dieses Identifikationssymbols erfaßt, als sie damit begannen, über die Glocke 'als Stimme einer Zentralgewalt zu gebieten, die vom Zentrum des Landes nach allen Seiten ausstrahlte'. Indem der Staat sie für eigene Zwecke instrumentalisierte und das Glockengeläut im weltlichen Kalender verankerte, stellte er das Gedenken in eine neue Tradition. Was Corbin über die Glocken im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts verkündete, hätte auch über den Gebetsruf des Muezzin, der die Gefühlswelt von Muslimen im Kaukasus stimulierte, gesagt werden können. Ethnische und nationale Selbstvergewisserungen beruhen auf Abgrenzung und Ausschluß. Man muß wissen, wer man nicht ist, um ganz bei sich zu sein. Wo unterschiedliche Welten aufeinandertreffen, werden Handlungsgewohnheiten, die im Alltag kaum je auf ihren Sinn hin befragt werden, reflexiv. So wird für eine Muslimin das Kopftuch doch erst dort zu einem Symbol ethnischer Abschließung, wo sie Menschen begegnet, die es nicht tragen und die es für einen Ausdruck von Fremdheit halten. Denn wer den Anderen als Fremden erkennt, sieht in ihm sich selbst. Bilder vom Fremden sind Tauschverhältnisse, in denen sich die Kultur, in der man steht, verändert und neu schöpft. Das gilt um so mehr für jene Situationen, in denen Kulturen einander bekriegen, wie es in kolonialistischen Gesellschaften geschieht, wenn Traditionen von der Kolonialmacht kriminialisiert und marginalisiert werden. Ethnischer Gemeinschaftsglaube besteht aus einer inklusiven und einer exklusiven Komponente, oder anders gesagt: 'Ethnizität provoziert immer Gegenethnizität.' Das ist auch der Grund, warum in Nationalstaaten, die durch kulturelle Homogenisierung die Gesellschaft zu 'modernisieren' und zu standardisieren versuchen, Menschen, die ihre Fremdheit nicht ablegen mögen, marginalisiert und ausgestoßen werden. In Vielvölkerstaaten lösen solche Versuche, Eindeutigkeit herzustellen, gewöhnlich gewalttätige Sezessionsbestrebungen aus. Der Weg in die Kommunikationsgesellschaft führt keineswegs in die Assimilation, wie Connor zu bedenken gegeben hat. Wo Menschen unterschiedlicher Abkunft miteinander in Kontakt geraten, so lehre die Erfahrung, werde der Ethnonationalismus nicht überwunden, sondern aufgerüstet. Wer dem Fremden begegne, ihn näher kennenlerne, werde im Glauben an die Einzigartigkeit der eigenen Gruppe bestärkt. Hobsbawm und seine marxistischen Adepten brachten für die kulturelle Gebundenheit menschlichen Lebens kein Interesse auf. Wo sich ihnen nicht zeigte, was es auch in Europa gab, Staat, Bürokratie, zivile Gesellschaft, bürgerliche Öffentlichkeit, Verfassungen und Parlamente, vermochten sie auch nichts zu entdecken. Eric Hobsbawm fand, Ethnien verwandelten sich nur dort in Nationen, wo sie in einer historischen Verbindung mit einem gegenwärtigen Staat stünden, über eine alteingesessene Elite geböten und die 'erwiesene Fähigkeit zur Eroberung' besäßen. Es ist das Hegelsche Erbe, das aus solchen Urteilen spricht, der Glaube, im Europa der Gegenwart zeige sich jene Zukunft, die dem Rest der Welt noch bevorstehe. Die Legitimation des Abendlandes als einer überlegenen Kultur schreibt sich doch nur von einer Ideologie her, nach deren Anschauung säkularisierte Kulturen nicht säkularen Kulturen überlegen sind. Nur wer diese Ideologie akzeptiert, kommt auch zu dem Urteil, die Überlegenheit des Abendlandes sei eine objektive Wertung. Das Mißverständnis, eine Nation sei nur, was sich in europäischer Verpackung als solche zu erkennen gibt, führt auf Holzwege, die keine Auswege mehr weisen. Kaukasusrepublik In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt u.
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Jörg Baberowski (Autor)

Der Feind ist überall: Stalinismus im Kaukasus [Gebundene Ausgabe] Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Zeitgeschichte islamische Kaukasusrepubliken Bolschewiki Kaukasusrepublik (2003)

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Deutsche Verlags-Anstalt, 2003. 2003. Hardcover. 22,7 x 15,9 x 4,8 cm. In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt und Tübingen gemeinsam verbrachte. Vieles, was in und zwischen den Zeilen steht, geht auf ihre Anregungen zurück. Für Zuspitzungen und Provokationen, ohne die dieser Text nicht auskommen konnte, bin ich selbst verantwortlich. Dietrich Geyer, der sich der Mühe unterzog, das ganze Manuskript zu lesen, danke ich für seine hilfreiche Kritik und die zahlreichen, anregenden Gespräche, die uns immer wieder zusammenführten. Ingrid Schierle und Margit Schneider sei Dank gesagt für die freundliche Atmosphäre, die sie im Tübinger Institut verbreiteten, Eberhard Müller, daß er nicht darin nachließ, die philosophische Dimension des historischen Arbeitens in Erinnerung zu rufen. Manfred Hildermeier, Dieter Langewiesche, Udo Sautter und Martin Zimmermann lasen das Manuskript als Gutachter. Ihre Kritik half mir, über die Konzeption des Buches neu nachzudenken. Michael Hochgeschwender schulde ich Dank für die gemeinsam veranstalteten Seminare, die mir die Welt jenseits des Atlantiks näherbrachten und die Sicht auf meinen eigenen Gegenstand schärften. Ohne die Hilfe von Maike Lehmann, die den gesamten Text durchsah, Fehler ausbesserte und Redundanzen beseitigte, wäre ich wahrscheinlich nie ans Ende gekommen. Auch ihr gilt mein herzlicher Dank. Claudia Weber, Susanne Schattenberg und Malte Rolf, meinen Kollegen in Leipzig und Berlin, danke ich für anregende Gespräche und die emotionale Unterstützung, die sie mir in den letzten zwei Jahren zuteil werden ließen. Mehr als sie es wahrscheinlich ahnen, haben mich die Studenten am Historischen Seminar der Universität Leipzig inspiriert. Sie gaben mir die Gewißheit, keiner nutzlosen Sache das Wort zu reden. In Petersburg half mir Vladimir V. Lapin, als er noch Direktor des Rußländischen Staatlichen Historischen Archivs war, mich im Dickicht der Dokumente zurechtzufinden. Niemand aber hat darin einen größeren Verdienst als Andrej Doronin, für dessen Aufopferung und Freundschaft Worte zu klein sind. Ohne seine Hilfe hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Dank sei auch den Mitarbeitern des Staatlichen Historischen Archivs der Republik Azerbajdzan in Baku, Zimma Babaeva und Fikret Aliev gesagt, die trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen sie leben und arbeiten mußten, alles taten, um mir bei meinen Nachforschungen zu helfen. Monika Schunder, Franziska Exeler, Manuela Putz und Natalja Stüdemann halfen bei der Anfertigung des Registers und hielten mich in meinem ersten Semester in Berlin bei guter Laune. Auch ihnen gilt mein herzlicher Dank. Daß aus dem Manuskript ein schönes Buch wurde, verdanke ich Stefan Ulrich Meyer von der Deutschen Verlags-Anstalt. Er opferte seine Weihnachtsferien, um aus einem wissenschaftlichen Buch ein lesbares zu machen. Ohne die Liebe meiner Frau Shiva aber wäre alles nichts. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Berlin, Mai 2003 Einleitung 'Der Feind ist überall. Der Feind ist im Kino, im Theater, in den Lehranstalten, in der Literatur, in den Behörden, in der Lebensweise, an allen Ecken und Enden gibt es feindliche Elemente.' Mit diesen Worten beschrieb der erste Sekretär der Azerbajdzanischen Kommunistischen Partei Ali Hejdar Karaev, wie er über die Wirklichkeit dachte, als er am 9. März 1929 zu den Delegierten des neunten Parteitages über die Kulturrevolution im sowjetischen Orient sprach. Wo Differenz und Ambivalenz, die Pluralität von Lebensstilen aufschienen, zeigte sich ihm nicht nur abweichendes Verhalten. Hier wurden für ihn Feinde, die sich in der Lebensweise der Untertanen verbargen, ans Licht der Welt gebracht. Es war die Aufgabe der Kommunisten, diese Feinde zu beseitigen. Macht ist eine Wirkung, die in Netzen zirkuliert, im Medium der Sprache, des Rituals und des Symbols. Macht tritt aber nur dort als Wirkung auf, wo sie sich in der Lebenspraxis des Alltags von selbst zur Anwendung bringt, wo sie nicht nur erduldet, sondern auch weitergegeben wird. Der totalitäre Entwurf lebte von der Vorstellung einer Macht, die alle Zweige des Gesellschaftskörpers durchströmte und in Bewegung hielt, Menschen beseelte und veränderte. Denn dort, wo die Macht 'an die Individuen rührt, ihre Körper ergreift, in ihre Gesten, in ihre Einstellungen, ihre Diskurse, ihr Lernen, ihr alltägliches Leben eindringt', konnte sich Fremdzwang in Selbstdisziplinierung verwandeln. 'Die Macht geht durch das Individuum, das sie konstituiert hat, hindurch', so hat Foucault zu bedenken gegeben. Macht war kein bloßer Reflex der Produktionsverhältnisse. Es waren die Bolschewiki selbst, die dem soziologischen Reduktionismus eine Absage erteilten. Die bolschewistische Unterstellung, im Verlauf der Geschichte werde der Mensch durch wahres Wissen zu sich selbst finden und mit der Entfremdung auch die Geschichte aufheben, schöpfte aus dem messianischen Sendungsbewußtsein der Revolutionäre. In diesem Sinn war der Bolschewismus eine säkularisierte Erlösungsideologie, die Partei sein Messias. Das Proletariat war keine soziologische Kategorie, sondern ein 'fortgeschrittener' Bewußtseinszustand. Proletarier zu sein, hieß, die Sprache der Bolschewiki zu sprechen, ihre Kleidung zu tragen und ihre Feste zu feiern. Nur so wird der Eifer verständlich, mit dem die neuen Machthaber allenthalben die Einübung von Diskursen, Praktiken, Moden und Attitüden, die Erziehung des neuen Menschen betrieben. Wo es gelang, die Kultur des neuen Menschen in die Alltagsrituale und den Sprachstil der Untertanen einzupflanzen, zeigte sich den Bolschewiki der Triumph ihrer Mission. Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Macht formiert sich stets gegen Widerstände, und sie zeigt sich auch nur dort, wo Widerstand aufscheint. Sie kann sich weder totalisieren noch selbst kontrollieren. Es ist das hinter Masken verborgene Individuum, das dem Disziplinierungsentwurf der Herrschaft seinen Eigensinn entgegensetzt, die Macht herausfordert und sich so stets neu konstituiert. In der frühen Sowjetunion zeigten sich die Wirkungen der bolschewistischen Macht nur ausnahmsweise, im städtischen Milieu der Intelligenz. Im Abseits, in den Dörfern und an der Peripherie des Imperiums, blieben die Ansprüche der Revolutionäre unvermittelt. Hier koexistierten parallele Netze der Macht, die einander nicht berührten. Für die Bolschewiki symbolisierte die Vielfalt nicht miteinander verbundener Unterwerfungstechniken Unordnung, Anarchie und Barbarei. Die moderne Welt, so wie die Bolschewiki sie verstanden, war übersichtlich und eindeutig. In ihr konnte es nur eine Technik der Auslegung und der Disziplinierung geben, und diese vertraten die neuen Machthaber selbst. Es ist stets übersehen worden, daß der stalinistische Terror aus einem Denkstil schöpfte, der menschliches Handeln in eine Teleologie der Erlösung einordnete und Ambivalenz als Widerstand von Feinden deutete. Und diese Deutung ergab sich aus der Konfrontation eschatologischer Heilserwartungen mit widerständigen Realitäten. Denn es mißlang den Bolschewiki, in der Unterwerfung konkurrierender Weltauslegungen eine Sprachlosigkeit herzustellen, die 'durch ihr eigenes Stummbleiben Schweigen gebietet'. Die hegemoniale Kultur übte keine Wirkung aus. Sie konnte die Kultur der Untertanen in der öffentlichen Inszenierung ihrer Ansprüche marginalisieren, aber sie vermochte sie nicht zu überwinden. Und deshalb zeigte sich in den Beziehungsnetzen des Alltags auch nicht die Macht des kommunistischen Diskurses. Die hegemoniale Kultur war ein hermetisches Bedeutungsgeflecht, das nicht über sich hinauswies und in dem die Bolschewiki heillos verfangen blieben. Was ein kultureller Austausch hätte werden können, wurde unter diesen Bedingungen zu einem Zwangsumtausch, der den Unterworfenen abverlangte, sich ihrer Kultur vollständig zu entledigen. Man könnte, was Karaev als Verhältnis von Feinden beschrieb, auch als verfehlte Zusammenkunft oder als Dialog zwischen Tauben bezeichnen." 'Es sind die undurchschauten Vorurteile, deren Herrschaft uns gegen die in der Überlieferung sprechende Sache taub macht', wie es Gadamer gesagt hat. Die Bolschewiki standen in einer Tradition, die ihre eigenen Vorurteile als voraussetzungslose Traditionslosigkeit ausgab. Dieses Denken, das vom Erbe der Auflärung mehr enthält, als mancher glaubt, unterstellte, die Welt könne vorurteilsfrei angeschaut und ihrer Mythen entkleidet werden. Wer nicht sah, was auch die Aufklärer sahen, bewies nur, daß er im Reich der Finsternis lebte. Je rückständiger und fremder sich die Umwelt in der Wahrnehmung der Bolschewiki präsentierte, desto größer war die Bereitschaft, sie mit Gewalt von ihrem Leiden an der Unvollkommenheit zu erlösen, Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. In seiner extremsten, bolschewistischen Variante triumphierte das Verlangen nach Eindeutigkeit und Homogenität in blutigem Terror. 'Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens, ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren - und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte. Intoleranz ist deshalb die natürliche Neigung der modernen Praxis. Konstruktion von Ordnung setzt der Eingliederung und der Zulassung Grenzen. Sie verlangt nach der Verneinung der Rechte - und der Gründe - all dessen, was nicht assimiliert werden kann - nach der Delegitimierung des Anderen', wie Zygmunt Bauman über das moderne Streben nach Eindeutigkeit geurteilt hat. Die Bolschewiki brachten ihre zivilisatorische Mission nicht aus dem Nichts hervor. Sie setzten fort, was ihre Vorgänger in der zarischen Bürokratie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Werk gesetzt hatten. Nur wäre es den Bürokraten des Zaren in ihrem Bemühen, Europa nach Rußland zu bringen und Lebensverhältnisse zu 'zivilisieren', nicht in den Sinn gekommen, die Barbarei mit den Mitteln der Barbarei aus der Welt zu schaffen. Sie wollten die 'Wilden' stattdessen durch aufgeklärtes Zureden vom Leiden an der Rückständigkeit erlösen. Die Bolschewiki indessen erlagen dem Wahn, es müßten Feinde vernichtet werden, um kulturelle Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. So aber führte der Kulturkonflikt in die unablässige Terrorisierung von Lebensverhältnissen. Der Stalinismus brachte sich aus dem Konflikt zwischen unverstandenen Welten hervor, im Zentrum wie an der Peripherie. Er war ein Zivilisationstyp, der im gewalttätigen Versuch, kulturelle Renitenz zu überwinden, zu sich kam. Das ist es, was Karaev meinte, als er davon sprach, der Feind zeige sich in der Lebensweise des Alltags. Darin lag die zerstörerische Potenz der stalinistischen Gewaltherrschaft: daß sie an der Stabilität der Lebensverhältnisse keinen Gefallen fand. Sie erschöpfte sich stattdessen in der unablässigen Terrorisierung der Bevölkerung, in der Zerstörung von Ordnung. Der Stalinismus war deshalb nicht die Überwindung einer 'schönen' Utopie, wie Richard Stites in seinem Buch über die revolutionären Träume in der frühen Sowjetunion behauptet hatte, sondern ihre eigentliche Vollstreckung. Was hier zur Sprache kommt, handelt von den kulturellen Ursprüngen des stalinistischen Terrors, wie er die Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre prägte. Ich beschränke mich darauf, diesen Zusammenhang exemplarisch, am Beispiel jener Auseinandersetzung zu beschreiben, die sich zwischen den Ordnungen des bolschewistischen Sozialismus und den Lebenswelten von Muslimen in der Kaukasusrepublik Azerbajdzan entfalteten. Warum Azerbajdzan? Was fernab des Moskauer Zentrums, jenseits des Großen Kaukasusgebirges geschah, sei doch nur eine Marginalie, die eine Erwähnung nicht lohne, so könnte man einwenden. Wer so spricht, verkennt jedoch, daß die Bedeutung eines Gegenstandes aus der Frage kommt, die Historiker an ihn richten. So ist es auch hier. Das Zarenreich und die Sowjetunion waren Vielvölkerreiche, an ihren südlichen Rändern im Kaukasus und in Zentralasien lebten mehrere Millionen Muslime sunnitischen und schiitischen Glaubens. Das Imperium beherbergte mehr als hundert Sprachen und Dialekte, seßhafte und nomadische, städtische und ländliche Lebensformen. Kurz: Das Sowjetimperium bestand nicht allein aus Russen und Slawen, auch wenn dieser Eindruck in der Geschichtsschreibung über das Zarenreich und die Sowjetunion bisweilen erweckt wird. Niemand, weder die zarischen Bürokraten noch ihre bolschewistischen Nachfolger, konnten in ihren politischen Entscheidungen von dieser Vielfalt der Ethnien, Sprachen und Kulturen absehen. Industrialisierung, Verstädterung und Kommunikationsverdichtung brachten Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion miteinander in Berührung. Vielerorts entfachten solche Kontakte Konflikte. Und wo die Staatsgewalt ihren Phantasien von der modernen Welt keine Zügel anlegte, geriet sie am Ende selbst in einen Gegensatz zu jenen, die sie 'russifizieren', zivilisieren oder aufklären wollte. An keinem anderen Ort zeigten sich die Konflikte des Vielvölkerreiches so unerbittlich wie in den muslimischen Kaukasus-Gouvernements Baku und Elizavetpol', die 1918 zur Republik Azerbajdzan verschmolzen. Die östlichen Territorien Transkaukasiens waren ethnisch und religiös heterogen, in ihren Städten lebten Muslime und Christen, Armenier, Türken und Russen neben- und miteinander. Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfaßte die Industrialisierung auch den Rand des Imperiums. Der Olboom verwandelte Baku, das städtische Zentrum der Region, in eine multiethnische Metropole, die sich aus dem Umland heraushob. Jenseits des städtischen Raumes standen seßhafte Bauern gegen Nomaden, Muslime gegen russische Siedler, Sunniten gegen Schiiten, Tal gegen Tal, Clan gegen Clan. Mit der Ankunft des Zentralstaates in der Region verwandelte sich diese in ein Experimentierfeld, auf dem die aufgeklärten Bürokraten des Zaren ihre Vorstellungen von der modernen Welt verwirklichen wollten. Mit den Beamten des Zaren kamen auch das europäische Recht, die Verwaltung, das Bildungswesen und die mit ihnen verbundenen Wertmaßstäbe an die Peripherie. Weil aber die Einheimischen solcher Bevormundung Widerstand entgegenbrachten, wurde, was als Projekt der Zivilisierung und Modernisierung auftrat, zu einer Diskriminierung und Zurücksetzung der Muslime. Wo Lebensformen kategorisiert und hierarchisiert wurden, traten sie einander nur noch als Ausschließlichkeit entgegen. So war es vor allem in Baku. Die Industriestadt am Kaspischen Meer verwandelte sich in einen Ort der Differenz, der nationalen, religiösen und sozialen Konflikte, die das 20. Jahrhundert beherrschten. Baku wurde zu einem Laboratorium der Xenophobie und der interethnischen Gewalt. Außerhalb der Städte löste die aufgeklärte Ignoranz, das Unverständnis, mit der die Bürokraten des Zaren ebenso wie die Kommunisten den Bauern gegenübertraten, blutige Konflikte aus, die sie am Ende nicht mehr unter ihre Kontrolle brachten. All jene Kulturkonflikte, Gewaltorgien und Katastrophen, wie sie die Sowjetunion der Stalin-Ära auszeichneten - hier liefen sie an einem Ort und zur gleichen Zeit zusammen. Nirgendwo sonst koexistierten die sozialen und kulturellen Zuschreibungen, Lebens- und Wirtschaftsformen, aus denen das Imperium bestand, auf solch kleinem Raum. Azerbajdzan repräsentierte das Imperium en miniature, alle Elemente, die dem Zarenreich und der Sowjetunion Spannung verliehen, waren hier vereint. Stalin und zahlreiche seiner engsten Mitstreiter und Gefolgsleute kamen aus der Kaukasusregion. Berija, Bagirov, Ordzonikidze, Mirzojan, Gikalo, Mikojan und die russischen 'Kaukasier', zu denen neben anderen vor allem Kirov gehörte, waren zweifellos die bedeutendsten Exponenten dieses Netzes. Mit ihnen ergriffen auch die Gewaltkultur der kaukasischen Peripherie, die Blutrache und archaische Vorstellungen von Ehre Besitz von der Partei, im Zentrum wie an den Rändern des Imperiums. So vermischte sich der Gewaltkult der Revolution mit den Gewalttraditionen jener Gesellschaften, die die Bolschewiki aus der Welt schaffen wollten. In den zentralasiatischen und kaukasischen Randzonen des Vielvölkerreiches wurden die Gewaltexzesse, wie sie in den 1930er Jahren in der gesamten Sowjetunion tobten, bereits früh eingeübt. Denn hier trafen die Bolschewiki auf eine Resistenz, die sie nur mit Waffengewalt brechen zu können glaubten. Manche jener bolschewistischen Terroristenkarrieren hatten an der asiatischen Peripherie ihren Ausgang genommen. Als Zivilisationstyp ist der Stalinismus nur in seiner imperialen Dimension verstehbar. Von ihr abzusehen, hieße, den Kontext aus dem Blick zu verlieren, aus dem sich die monströse Gewalt hervorbrachte. Das ist es, was eine Geschichte des Stalinismus im Kaukasus rechtfertigt. Eine Geschichte, die den kulturellen Ursprüngen des Stalinismus auf der Spur ist, begibt sich auf neue Wege. Bislang wurde das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in der westlichen wie der sowjetisch/ russischen Historiographie als Prozeß linearer Modernisierung beschrieben. Die Bolschewiki trafen demnach auf eine rückständige Peripherie und unterwarfen sie notwendiger Modernisierung. Eine solche Einschätzung wird man aber nur dann gewinnen, wenn die Maßstäbe für das Moderne, für das schlechthin Bessere aus den Ansprüchen der Kolonisierer gewonnen werden. Und das ist auch der Grund, warum die Geschichtsschreibung über die Erfahrungen, die vom hegemonialen Diskurs der Bolschewiki verdeckt wurden, Schweigen bewahrt. Sie sprach entweder von der Nationalitätenpolitik des Zentrums oder von den nationalen Programmen islamischer Eliten. Nun erwuchs die koloniale Strategie ebenso wie die Resistenz, die sich ihr entgegenwarf, aus der Begegnung. Wo Fremde einander näherkamen, veränderten sich ihre Vorstellungen vom Anderen. Was ein Russe, ein Armenier, Türke oder Muslim sei, diese Frage mußte im Blick auf das Andere stets neu gestellt und beantwortet werden. Davon aber konnte man in der historischen Literatur über das Zarenreich und die Sowjetunion - von Ausnahmen abgesehen, die sich auf das Zarenreich, nicht aber auf die Sowjetunion bezogen - nur wenig finden. Es waren nicht zuletzt Eric Hobsbawm, Benedict Anderson und Ernest Gellner, die mit ihren teleologischen und eurozentrischen Nationalismusmodellen den Blick der Historiker trübten. In den 1980er und frühen 1990er Jahren warteten sie in unterschiedlichen Varianten mit der Entdeckung auf, Traditionen seien menschliche Schöpfungen (inventions of tradition), Nationen vorgestellte Gemeinschaften (imagined communities). Gellner verstieg sich am Ende zu der Behauptung, die 'kulturellen Fetzen und Flicken, derer sich der Nationalismus bedient', seien nichts weiter als 'willkürliche historische Erfindungen'. 'Jeder beliebige alte Fetzen und Flicken hätte die gleichen Dienste getan.' Anderson sah die Nation als 'eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung einer Gemeinschaft existiert.' Als solche ist sie ein modernes Phänomen, sie ist an die Fähigkeit ihrer Mitglieder gebunden, miteinander über größere Räume hinweg zu kommunizieren und Glaubensbekenntnisse durch Wiederholung alltäglicher Rituale wachzuhalten. Nun spricht aber durch die Texte der Konstruktivisten vor allem die Sehnsucht nach der Überwindung von Nationen hindurch, nach der Widerlegung jener Vorstellung, Nationen seien urwüchsige, über Jahrhunderte bestehende und keinem Wandel unterworfene Gemeinschaften von Gleichgesinnten, deren Glaubenssätze die Wirklichkeit abbildeten. 'Daß Nationen als eine natürliche, gottgegebene Art der Klassifizierung von Menschen gelten - als ein politisches Geschick - ist ein Mythos. Der Nationalismus, der manchmal bereits bestehende Kulturen in Nationen umwandelt, erfindet manchmal Kulturen und vernichtet häufig tatsächlich bestehende Kulturen', wie Gellner es ausgedrückt hat. Zuerst: jede Gemeinschaft, die über einen vis a vis-Kontakt zwischen Menschen hinausreicht, ist vorgestellt. Denn was ist Religion, Stand, Klasse anderes als eine vorgestellte Gemeinschaft, die Menschen vor Stabilitätsverlusten bewahrt. Dann: Menschen sind in Bedeutungsnetzen, symbolischen Ordnungen verfangen, mit deren Hilfe sie ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen ordnen und Struktur in das Chaos des Alltags bringen. Der Mensch entkommt seinen Erfindungen nicht. Er lebt in einem symbolischen Universum, in Sprache, Mythos, Kunst und Religion, seine Erfahrungen sind in ein Symbolnetz eingewebt, aus dem er sich nicht nach Belieben hinausbegeben kann. 'Statt mit den Dingen, hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizelle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.' So hat es der Kulturphilosoph Ernst Cassirer in seinem Traktat über den Menschen 1944 formuliert. Die Behauptung also, die Konstruktion von Nationen beruhe auf Mythen, besagt, daß jenseits der Mythen eine objektive Realität existiere, die von den Nationalisten verzerrt werde. Ein solcher Objektivismus ist freilich nichts weiter als ein vergebliches Unterfangen, die Welt von nirgendwo zu sehen. Zur Beantwortung der Frage, warum und in welchen Formen Menschen sich ihrer selbst vergewissern, trägt diese Suche nach Authentizität nichts bei. Um es mit einem anderen Beispiel zu sagen: Ob der Gott der jüdisch-christlichen Überlieferung existiert oder nicht existiert, ist völlig gleichgültig gegenüber der Tatsache, in welchem Ausmaß die Vorstellung Gottes das Handeln und die Geschichte von Menschen bestimmt hat. Der Politikwissenschaftler Walker Connor verband diese Einsicht mit einer allgemeinen Theorie über Nationswerdung. In ihr sprach er vom Vorrang der Selbstidentifikation gegenüber scheinbar objektiven Kriterien wie Sprache, Territorium usw. Das Selbstbild sei es, die subjektive Selbstbindung des Einzelnen an eine Gruppe und sein Glaube, ihr und keiner anderen anzugehören, aus der sich die Nation hervorbringe. Daß Gemeinschaften konstruiert seien, spreche nicht gegen ihre Existenz: 'What ultimately matters is not what is but what people believe is.' Kurz: Die Dämonisierung der Nation, die aus den Texten der Konstruktivisten auch spricht, ergibt sich aus einem Verfahren, das die Symbolwelten, die nationale Gemeinschaften konstituieren, zu willkürlichen Konstruktionen von Nationalisten erklärt. Nationen sind aber keine Fata Morgana, die sich durch richtige Reflexion wieder auflösen, sie bestehen, solange ihre Mythen im Bewußtsein von Menschen verankert sind und für wahr gehalten werden. 'Traditions may be invented, but they only last if they have resonance.' Handlungsgewohnheiten wurzeln in bereits bestehenden Traditionen, in gemeinsamen Erinnerungen, die nicht willkürlich aus den Menschen durch Agitation hervorgebracht werden können. Der Kulturanthropologe Clifford Geertz sprach von primordialen Codes, von den in der frühen Kindheit vermittelten Gefühlen der Zugehörigkeit zu den nächsten Verwandten, zu einer bestimmten Religion, zu einer besonderen Sprache, zu spezifischen Normen und Bräuchen oder auch zu jener umgrenzten und überschaubaren Örtlichkeit, die man im Deutschen Heimat nennt. Diese Bindungen, so hat Geertz zu bedenken gegeben, seien stärker als jene, die Menschen in späteren Lebensphasen eingehen: Jene aus wirtschaftlichen Interessen und politischen Überzeugungen. Es ist der Appell an diese Gefühle und affektiv besetzten Bindungen, die den Erfolg ethnischer oder nationaler Vergemeinschaftung ermöglichen. Niemand hat diese affektiven Bindungen schöner beschrieben als Alain Corbin in seinem Buch über die Sprache der Glocken im Frankreich des 19. Jahrhunderts. 'Das Lesen der klanglichen Umwelt war damals ein Teil des Prozesses, in dem die Identität, die individuelle wie die kommunitaristische, hergestellt wurde. Das Glockenläuten war die Sprache eines Kommunikationssystems, das nach und nach zerfallen ist. Es regelte nach einem heute vergessenen Rhythmus die Beziehungen zwischen den Menschen sowie die zwischen den Lebenden und den Toten.' Die Amtsträger des französischen Staates hatten die Bedeutung dieses Identifikationssymbols erfaßt, als sie damit begannen, über die Glocke 'als Stimme einer Zentralgewalt zu gebieten, die vom Zentrum des Landes nach allen Seiten ausstrahlte'. Indem der Staat sie für eigene Zwecke instrumentalisierte und das Glockengeläut im weltlichen Kalender verankerte, stellte er das Gedenken in eine neue Tradition. Was Corbin über die Glocken im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts verkündete, hätte auch über den Gebetsruf des Muezzin, der die Gefühlswelt von Muslimen im Kaukasus stimulierte, gesagt werden können. Ethnische und nationale Selbstvergewisserungen beruhen auf Abgrenzung und Ausschluß. Man muß wissen, wer man nicht ist, um ganz bei sich zu sein. Wo unterschiedliche Welten aufeinandertreffen, werden Handlungsgewohnheiten, die im Alltag kaum je auf ihren Sinn hin befragt werden, reflexiv. So wird für eine Muslimin das Kopftuch doch erst dort zu einem Symbol ethnischer Abschließung, wo sie Menschen begegnet, die es nicht tragen und die es für einen Ausdruck von Fremdheit halten. Denn wer den Anderen als Fremden erkennt, sieht in ihm sich selbst. Bilder vom Fremden sind Tauschverhältnisse, in denen sich die Kultur, in der man steht, verändert und neu schöpft. Das gilt um so mehr für jene Situationen, in denen Kulturen einander bekriegen, wie es in kolonialistischen Gesellschaften geschieht, wenn Traditionen von der Kolonialmacht kriminialisiert und marginalisiert werden. Ethnischer Gemeinschaftsglaube besteht aus einer inklusiven und einer exklusiven Komponente, oder anders gesagt: 'Ethnizität provoziert immer Gegenethnizität.' Das ist auch der Grund, warum in Nationalstaaten, die durch kulturelle Homogenisierung die Gesellschaft zu 'modernisieren' und zu standardisieren versuchen, Menschen, die ihre Fremdheit nicht ablegen mögen, marginalisiert und ausgestoßen werden. In Vielvölkerstaaten lösen solche Versuche, Eindeutigkeit herzustellen, gewöhnlich gewalttätige Sezessionsbestrebungen aus. Der Weg in die Kommunikationsgesellschaft führt keineswegs in die Assimilation, wie Connor zu bedenken gegeben hat. Wo Menschen unterschiedlicher Abkunft miteinander in Kontakt geraten, so lehre die Erfahrung, werde der Ethnonationalismus nicht überwunden, sondern aufgerüstet. Wer dem Fremden begegne, ihn näher kennenlerne, werde im Glauben an die Einzigartigkeit der eigenen Gruppe bestärkt. Hobsbawm und seine marxistischen Adepten brachten für die kulturelle Gebundenheit menschlichen Lebens kein Interesse auf. Wo sich ihnen nicht zeigte, was es auch in Europa gab, Staat, Bürokratie, zivile Gesellschaft, bürgerliche Öffentlichkeit, Verfassungen und Parlamente, vermochten sie auch nichts zu entdecken. Eric Hobsbawm fand, Ethnien verwandelten sich nur dort in Nationen, wo sie in einer historischen Verbindung mit einem gegenwärtigen Staat stünden, über eine alteingesessene Elite geböten und die 'erwiesene Fähigkeit zur Eroberung' besäßen. Es ist das Hegelsche Erbe, das aus solchen Urteilen spricht, der Glaube, im Europa der Gegenwart zeige sich jene Zukunft, die dem Rest der Welt noch bevorstehe. Die Legitimation des Abendlandes als einer überlegenen Kultur schreibt sich doch nur von einer Ideologie her, nach deren Anschauung säkularisierte Kulturen nicht säkularen Kulturen überlegen sind. Nur wer diese Ideologie akzeptiert, kommt auch zu dem Urteil, die Überlegenheit des Abendlandes sei eine objektive Wertung. Das Mißverständnis, eine Nation sei nur, was sich in europäischer Verpackung als solche zu erkennen gibt, führt auf Holzwege, die keine Auswege mehr weisen. Kaukasusrepublik In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt u.
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Jörg Baberowski (Autor)

Der Feind ist überall: Stalinismus im Kaukasus [Gebundene Ausgabe] Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Zeitgeschichte islamische Kaukasusrepubliken Bolschewiki Kaukasusrepublik (2003)

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Deutsche Verlags-Anstalt, 2003. 2003. Hardcover. 22,7 x 15,9 x 4,8 cm. In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt und Tübingen gemeinsam verbrachte. Vieles, was in und zwischen den Zeilen steht, geht auf ihre Anregungen zurück. Für Zuspitzungen und Provokationen, ohne die dieser Text nicht auskommen konnte, bin ich selbst verantwortlich. Dietrich Geyer, der sich der Mühe unterzog, das ganze Manuskript zu lesen, danke ich für seine hilfreiche Kritik und die zahlreichen, anregenden Gespräche, die uns immer wieder zusammenführten. Ingrid Schierle und Margit Schneider sei Dank gesagt für die freundliche Atmosphäre, die sie im Tübinger Institut verbreiteten, Eberhard Müller, daß er nicht darin nachließ, die philosophische Dimension des historischen Arbeitens in Erinnerung zu rufen. Manfred Hildermeier, Dieter Langewiesche, Udo Sautter und Martin Zimmermann lasen das Manuskript als Gutachter. Ihre Kritik half mir, über die Konzeption des Buches neu nachzudenken. Michael Hochgeschwender schulde ich Dank für die gemeinsam veranstalteten Seminare, die mir die Welt jenseits des Atlantiks näherbrachten und die Sicht auf meinen eigenen Gegenstand schärften. Ohne die Hilfe von Maike Lehmann, die den gesamten Text durchsah, Fehler ausbesserte und Redundanzen beseitigte, wäre ich wahrscheinlich nie ans Ende gekommen. Auch ihr gilt mein herzlicher Dank. Claudia Weber, Susanne Schattenberg und Malte Rolf, meinen Kollegen in Leipzig und Berlin, danke ich für anregende Gespräche und die emotionale Unterstützung, die sie mir in den letzten zwei Jahren zuteil werden ließen. Mehr als sie es wahrscheinlich ahnen, haben mich die Studenten am Historischen Seminar der Universität Leipzig inspiriert. Sie gaben mir die Gewißheit, keiner nutzlosen Sache das Wort zu reden. In Petersburg half mir Vladimir V. Lapin, als er noch Direktor des Rußländischen Staatlichen Historischen Archivs war, mich im Dickicht der Dokumente zurechtzufinden. Niemand aber hat darin einen größeren Verdienst als Andrej Doronin, für dessen Aufopferung und Freundschaft Worte zu klein sind. Ohne seine Hilfe hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Dank sei auch den Mitarbeitern des Staatlichen Historischen Archivs der Republik Azerbajdzan in Baku, Zimma Babaeva und Fikret Aliev gesagt, die trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen sie leben und arbeiten mußten, alles taten, um mir bei meinen Nachforschungen zu helfen. Monika Schunder, Franziska Exeler, Manuela Putz und Natalja Stüdemann halfen bei der Anfertigung des Registers und hielten mich in meinem ersten Semester in Berlin bei guter Laune. Auch ihnen gilt mein herzlicher Dank. Daß aus dem Manuskript ein schönes Buch wurde, verdanke ich Stefan Ulrich Meyer von der Deutschen Verlags-Anstalt. Er opferte seine Weihnachtsferien, um aus einem wissenschaftlichen Buch ein lesbares zu machen. Ohne die Liebe meiner Frau Shiva aber wäre alles nichts. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Berlin, Mai 2003 Einleitung 'Der Feind ist überall. Der Feind ist im Kino, im Theater, in den Lehranstalten, in der Literatur, in den Behörden, in der Lebensweise, an allen Ecken und Enden gibt es feindliche Elemente.' Mit diesen Worten beschrieb der erste Sekretär der Azerbajdzanischen Kommunistischen Partei Ali Hejdar Karaev, wie er über die Wirklichkeit dachte, als er am 9. März 1929 zu den Delegierten des neunten Parteitages über die Kulturrevolution im sowjetischen Orient sprach. Wo Differenz und Ambivalenz, die Pluralität von Lebensstilen aufschienen, zeigte sich ihm nicht nur abweichendes Verhalten. Hier wurden für ihn Feinde, die sich in der Lebensweise der Untertanen verbargen, ans Licht der Welt gebracht. Es war die Aufgabe der Kommunisten, diese Feinde zu beseitigen. Macht ist eine Wirkung, die in Netzen zirkuliert, im Medium der Sprache, des Rituals und des Symbols. Macht tritt aber nur dort als Wirkung auf, wo sie sich in der Lebenspraxis des Alltags von selbst zur Anwendung bringt, wo sie nicht nur erduldet, sondern auch weitergegeben wird. Der totalitäre Entwurf lebte von der Vorstellung einer Macht, die alle Zweige des Gesellschaftskörpers durchströmte und in Bewegung hielt, Menschen beseelte und veränderte. Denn dort, wo die Macht 'an die Individuen rührt, ihre Körper ergreift, in ihre Gesten, in ihre Einstellungen, ihre Diskurse, ihr Lernen, ihr alltägliches Leben eindringt', konnte sich Fremdzwang in Selbstdisziplinierung verwandeln. 'Die Macht geht durch das Individuum, das sie konstituiert hat, hindurch', so hat Foucault zu bedenken gegeben. Macht war kein bloßer Reflex der Produktionsverhältnisse. Es waren die Bolschewiki selbst, die dem soziologischen Reduktionismus eine Absage erteilten. Die bolschewistische Unterstellung, im Verlauf der Geschichte werde der Mensch durch wahres Wissen zu sich selbst finden und mit der Entfremdung auch die Geschichte aufheben, schöpfte aus dem messianischen Sendungsbewußtsein der Revolutionäre. In diesem Sinn war der Bolschewismus eine säkularisierte Erlösungsideologie, die Partei sein Messias. Das Proletariat war keine soziologische Kategorie, sondern ein 'fortgeschrittener' Bewußtseinszustand. Proletarier zu sein, hieß, die Sprache der Bolschewiki zu sprechen, ihre Kleidung zu tragen und ihre Feste zu feiern. Nur so wird der Eifer verständlich, mit dem die neuen Machthaber allenthalben die Einübung von Diskursen, Praktiken, Moden und Attitüden, die Erziehung des neuen Menschen betrieben. Wo es gelang, die Kultur des neuen Menschen in die Alltagsrituale und den Sprachstil der Untertanen einzupflanzen, zeigte sich den Bolschewiki der Triumph ihrer Mission. Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Macht formiert sich stets gegen Widerstände, und sie zeigt sich auch nur dort, wo Widerstand aufscheint. Sie kann sich weder totalisieren noch selbst kontrollieren. Es ist das hinter Masken verborgene Individuum, das dem Disziplinierungsentwurf der Herrschaft seinen Eigensinn entgegensetzt, die Macht herausfordert und sich so stets neu konstituiert. In der frühen Sowjetunion zeigten sich die Wirkungen der bolschewistischen Macht nur ausnahmsweise, im städtischen Milieu der Intelligenz. Im Abseits, in den Dörfern und an der Peripherie des Imperiums, blieben die Ansprüche der Revolutionäre unvermittelt. Hier koexistierten parallele Netze der Macht, die einander nicht berührten. Für die Bolschewiki symbolisierte die Vielfalt nicht miteinander verbundener Unterwerfungstechniken Unordnung, Anarchie und Barbarei. Die moderne Welt, so wie die Bolschewiki sie verstanden, war übersichtlich und eindeutig. In ihr konnte es nur eine Technik der Auslegung und der Disziplinierung geben, und diese vertraten die neuen Machthaber selbst. Es ist stets übersehen worden, daß der stalinistische Terror aus einem Denkstil schöpfte, der menschliches Handeln in eine Teleologie der Erlösung einordnete und Ambivalenz als Widerstand von Feinden deutete. Und diese Deutung ergab sich aus der Konfrontation eschatologischer Heilserwartungen mit widerständigen Realitäten. Denn es mißlang den Bolschewiki, in der Unterwerfung konkurrierender Weltauslegungen eine Sprachlosigkeit herzustellen, die 'durch ihr eigenes Stummbleiben Schweigen gebietet'. Die hegemoniale Kultur übte keine Wirkung aus. Sie konnte die Kultur der Untertanen in der öffentlichen Inszenierung ihrer Ansprüche marginalisieren, aber sie vermochte sie nicht zu überwinden. Und deshalb zeigte sich in den Beziehungsnetzen des Alltags auch nicht die Macht des kommunistischen Diskurses. Die hegemoniale Kultur war ein hermetisches Bedeutungsgeflecht, das nicht über sich hinauswies und in dem die Bolschewiki heillos verfangen blieben. Was ein kultureller Austausch hätte werden können, wurde unter diesen Bedingungen zu einem Zwangsumtausch, der den Unterworfenen abverlangte, sich ihrer Kultur vollständig zu entledigen. Man könnte, was Karaev als Verhältnis von Feinden beschrieb, auch als verfehlte Zusammenkunft oder als Dialog zwischen Tauben bezeichnen." 'Es sind die undurchschauten Vorurteile, deren Herrschaft uns gegen die in der Überlieferung sprechende Sache taub macht', wie es Gadamer gesagt hat. Die Bolschewiki standen in einer Tradition, die ihre eigenen Vorurteile als voraussetzungslose Traditionslosigkeit ausgab. Dieses Denken, das vom Erbe der Auflärung mehr enthält, als mancher glaubt, unterstellte, die Welt könne vorurteilsfrei angeschaut und ihrer Mythen entkleidet werden. Wer nicht sah, was auch die Aufklärer sahen, bewies nur, daß er im Reich der Finsternis lebte. Je rückständiger und fremder sich die Umwelt in der Wahrnehmung der Bolschewiki präsentierte, desto größer war die Bereitschaft, sie mit Gewalt von ihrem Leiden an der Unvollkommenheit zu erlösen, Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. In seiner extremsten, bolschewistischen Variante triumphierte das Verlangen nach Eindeutigkeit und Homogenität in blutigem Terror. 'Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens, ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren - und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte. Intoleranz ist deshalb die natürliche Neigung der modernen Praxis. Konstruktion von Ordnung setzt der Eingliederung und der Zulassung Grenzen. Sie verlangt nach der Verneinung der Rechte - und der Gründe - all dessen, was nicht assimiliert werden kann - nach der Delegitimierung des Anderen', wie Zygmunt Bauman über das moderne Streben nach Eindeutigkeit geurteilt hat. Die Bolschewiki brachten ihre zivilisatorische Mission nicht aus dem Nichts hervor. Sie setzten fort, was ihre Vorgänger in der zarischen Bürokratie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Werk gesetzt hatten. Nur wäre es den Bürokraten des Zaren in ihrem Bemühen, Europa nach Rußland zu bringen und Lebensverhältnisse zu 'zivilisieren', nicht in den Sinn gekommen, die Barbarei mit den Mitteln der Barbarei aus der Welt zu schaffen. Sie wollten die 'Wilden' stattdessen durch aufgeklärtes Zureden vom Leiden an der Rückständigkeit erlösen. Die Bolschewiki indessen erlagen dem Wahn, es müßten Feinde vernichtet werden, um kulturelle Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. So aber führte der Kulturkonflikt in die unablässige Terrorisierung von Lebensverhältnissen. Der Stalinismus brachte sich aus dem Konflikt zwischen unverstandenen Welten hervor, im Zentrum wie an der Peripherie. Er war ein Zivilisationstyp, der im gewalttätigen Versuch, kulturelle Renitenz zu überwinden, zu sich kam. Das ist es, was Karaev meinte, als er davon sprach, der Feind zeige sich in der Lebensweise des Alltags. Darin lag die zerstörerische Potenz der stalinistischen Gewaltherrschaft: daß sie an der Stabilität der Lebensverhältnisse keinen Gefallen fand. Sie erschöpfte sich stattdessen in der unablässigen Terrorisierung der Bevölkerung, in der Zerstörung von Ordnung. Der Stalinismus war deshalb nicht die Überwindung einer 'schönen' Utopie, wie Richard Stites in seinem Buch über die revolutionären Träume in der frühen Sowjetunion behauptet hatte, sondern ihre eigentliche Vollstreckung. Was hier zur Sprache kommt, handelt von den kulturellen Ursprüngen des stalinistischen Terrors, wie er die Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre prägte. Ich beschränke mich darauf, diesen Zusammenhang exemplarisch, am Beispiel jener Auseinandersetzung zu beschreiben, die sich zwischen den Ordnungen des bolschewistischen Sozialismus und den Lebenswelten von Muslimen in der Kaukasusrepublik Azerbajdzan entfalteten. Warum Azerbajdzan? Was fernab des Moskauer Zentrums, jenseits des Großen Kaukasusgebirges geschah, sei doch nur eine Marginalie, die eine Erwähnung nicht lohne, so könnte man einwenden. Wer so spricht, verkennt jedoch, daß die Bedeutung eines Gegenstandes aus der Frage kommt, die Historiker an ihn richten. So ist es auch hier. Das Zarenreich und die Sowjetunion waren Vielvölkerreiche, an ihren südlichen Rändern im Kaukasus und in Zentralasien lebten mehrere Millionen Muslime sunnitischen und schiitischen Glaubens. Das Imperium beherbergte mehr als hundert Sprachen und Dialekte, seßhafte und nomadische, städtische und ländliche Lebensformen. Kurz: Das Sowjetimperium bestand nicht allein aus Russen und Slawen, auch wenn dieser Eindruck in der Geschichtsschreibung über das Zarenreich und die Sowjetunion bisweilen erweckt wird. Niemand, weder die zarischen Bürokraten noch ihre bolschewistischen Nachfolger, konnten in ihren politischen Entscheidungen von dieser Vielfalt der Ethnien, Sprachen und Kulturen absehen. Industrialisierung, Verstädterung und Kommunikationsverdichtung brachten Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion miteinander in Berührung. Vielerorts entfachten solche Kontakte Konflikte. Und wo die Staatsgewalt ihren Phantasien von der modernen Welt keine Zügel anlegte, geriet sie am Ende selbst in einen Gegensatz zu jenen, die sie 'russifizieren', zivilisieren oder aufklären wollte. An keinem anderen Ort zeigten sich die Konflikte des Vielvölkerreiches so unerbittlich wie in den muslimischen Kaukasus-Gouvernements Baku und Elizavetpol', die 1918 zur Republik Azerbajdzan verschmolzen. Die östlichen Territorien Transkaukasiens waren ethnisch und religiös heterogen, in ihren Städten lebten Muslime und Christen, Armenier, Türken und Russen neben- und miteinander. Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfaßte die Industrialisierung auch den Rand des Imperiums. Der Olboom verwandelte Baku, das städtische Zentrum der Region, in eine multiethnische Metropole, die sich aus dem Umland heraushob. Jenseits des städtischen Raumes standen seßhafte Bauern gegen Nomaden, Muslime gegen russische Siedler, Sunniten gegen Schiiten, Tal gegen Tal, Clan gegen Clan. Mit der Ankunft des Zentralstaates in der Region verwandelte sich diese in ein Experimentierfeld, auf dem die aufgeklärten Bürokraten des Zaren ihre Vorstellungen von der modernen Welt verwirklichen wollten. Mit den Beamten des Zaren kamen auch das europäische Recht, die Verwaltung, das Bildungswesen und die mit ihnen verbundenen Wertmaßstäbe an die Peripherie. Weil aber die Einheimischen solcher Bevormundung Widerstand entgegenbrachten, wurde, was als Projekt der Zivilisierung und Modernisierung auftrat, zu einer Diskriminierung und Zurücksetzung der Muslime. Wo Lebensformen kategorisiert und hierarchisiert wurden, traten sie einander nur noch als Ausschließlichkeit entgegen. So war es vor allem in Baku. Die Industriestadt am Kaspischen Meer verwandelte sich in einen Ort der Differenz, der nationalen, religiösen und sozialen Konflikte, die das 20. Jahrhundert beherrschten. Baku wurde zu einem Laboratorium der Xenophobie und der interethnischen Gewalt. Außerhalb der Städte löste die aufgeklärte Ignoranz, das Unverständnis, mit der die Bürokraten des Zaren ebenso wie die Kommunisten den Bauern gegenübertraten, blutige Konflikte aus, die sie am Ende nicht mehr unter ihre Kontrolle brachten. All jene Kulturkonflikte, Gewaltorgien und Katastrophen, wie sie die Sowjetunion der Stalin-Ära auszeichneten - hier liefen sie an einem Ort und zur gleichen Zeit zusammen. Nirgendwo sonst koexistierten die sozialen und kulturellen Zuschreibungen, Lebens- und Wirtschaftsformen, aus denen das Imperium bestand, auf solch kleinem Raum. Azerbajdzan repräsentierte das Imperium en miniature, alle Elemente, die dem Zarenreich und der Sowjetunion Spannung verliehen, waren hier vereint. Stalin und zahlreiche seiner engsten Mitstreiter und Gefolgsleute kamen aus der Kaukasusregion. Berija, Bagirov, Ordzonikidze, Mirzojan, Gikalo, Mikojan und die russischen 'Kaukasier', zu denen neben anderen vor allem Kirov gehörte, waren zweifellos die bedeutendsten Exponenten dieses Netzes. Mit ihnen ergriffen auch die Gewaltkultur der kaukasischen Peripherie, die Blutrache und archaische Vorstellungen von Ehre Besitz von der Partei, im Zentrum wie an den Rändern des Imperiums. So vermischte sich der Gewaltkult der Revolution mit den Gewalttraditionen jener Gesellschaften, die die Bolschewiki aus der Welt schaffen wollten. In den zentralasiatischen und kaukasischen Randzonen des Vielvölkerreiches wurden die Gewaltexzesse, wie sie in den 1930er Jahren in der gesamten Sowjetunion tobten, bereits früh eingeübt. Denn hier trafen die Bolschewiki auf eine Resistenz, die sie nur mit Waffengewalt brechen zu können glaubten. Manche jener bolschewistischen Terroristenkarrieren hatten an der asiatischen Peripherie ihren Ausgang genommen. Als Zivilisationstyp ist der Stalinismus nur in seiner imperialen Dimension verstehbar. Von ihr abzusehen, hieße, den Kontext aus dem Blick zu verlieren, aus dem sich die monströse Gewalt hervorbrachte. Das ist es, was eine Geschichte des Stalinismus im Kaukasus rechtfertigt. Eine Geschichte, die den kulturellen Ursprüngen des Stalinismus auf der Spur ist, begibt sich auf neue Wege. Bislang wurde das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in der westlichen wie der sowjetisch/ russischen Historiographie als Prozeß linearer Modernisierung beschrieben. Die Bolschewiki trafen demnach auf eine rückständige Peripherie und unterwarfen sie notwendiger Modernisierung. Eine solche Einschätzung wird man aber nur dann gewinnen, wenn die Maßstäbe für das Moderne, für das schlechthin Bessere aus den Ansprüchen der Kolonisierer gewonnen werden. Und das ist auch der Grund, warum die Geschichtsschreibung über die Erfahrungen, die vom hegemonialen Diskurs der Bolschewiki verdeckt wurden, Schweigen bewahrt. Sie sprach entweder von der Nationalitätenpolitik des Zentrums oder von den nationalen Programmen islamischer Eliten. Nun erwuchs die koloniale Strategie ebenso wie die Resistenz, die sich ihr entgegenwarf, aus der Begegnung. Wo Fremde einander näherkamen, veränderten sich ihre Vorstellungen vom Anderen. Was ein Russe, ein Armenier, Türke oder Muslim sei, diese Frage mußte im Blick auf das Andere stets neu gestellt und beantwortet werden. Davon aber konnte man in der historischen Literatur über das Zarenreich und die Sowjetunion - von Ausnahmen abgesehen, die sich auf das Zarenreich, nicht aber auf die Sowjetunion bezogen - nur wenig finden. Es waren nicht zuletzt Eric Hobsbawm, Benedict Anderson und Ernest Gellner, die mit ihren teleologischen und eurozentrischen Nationalismusmodellen den Blick der Historiker trübten. In den 1980er und frühen 1990er Jahren warteten sie in unterschiedlichen Varianten mit der Entdeckung auf, Traditionen seien menschliche Schöpfungen (inventions of tradition), Nationen vorgestellte Gemeinschaften (imagined communities). Gellner verstieg sich am Ende zu der Behauptung, die 'kulturellen Fetzen und Flicken, derer sich der Nationalismus bedient', seien nichts weiter als 'willkürliche historische Erfindungen'. 'Jeder beliebige alte Fetzen und Flicken hätte die gleichen Dienste getan.' Anderson sah die Nation als 'eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung einer Gemeinschaft existiert.' Als solche ist sie ein modernes Phänomen, sie ist an die Fähigkeit ihrer Mitglieder gebunden, miteinander über größere Räume hinweg zu kommunizieren und Glaubensbekenntnisse durch Wiederholung alltäglicher Rituale wachzuhalten. Nun spricht aber durch die Texte der Konstruktivisten vor allem die Sehnsucht nach der Überwindung von Nationen hindurch, nach der Widerlegung jener Vorstellung, Nationen seien urwüchsige, über Jahrhunderte bestehende und keinem Wandel unterworfene Gemeinschaften von Gleichgesinnten, deren Glaubenssätze die Wirklichkeit abbildeten. 'Daß Nationen als eine natürliche, gottgegebene Art der Klassifizierung von Menschen gelten - als ein politisches Geschick - ist ein Mythos. Der Nationalismus, der manchmal bereits bestehende Kulturen in Nationen umwandelt, erfindet manchmal Kulturen und vernichtet häufig tatsächlich bestehende Kulturen', wie Gellner es ausgedrückt hat. Zuerst: jede Gemeinschaft, die über einen vis a vis-Kontakt zwischen Menschen hinausreicht, ist vorgestellt. Denn was ist Religion, Stand, Klasse anderes als eine vorgestellte Gemeinschaft, die Menschen vor Stabilitätsverlusten bewahrt. Dann: Menschen sind in Bedeutungsnetzen, symbolischen Ordnungen verfangen, mit deren Hilfe sie ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen ordnen und Struktur in das Chaos des Alltags bringen. Der Mensch entkommt seinen Erfindungen nicht. Er lebt in einem symbolischen Universum, in Sprache, Mythos, Kunst und Religion, seine Erfahrungen sind in ein Symbolnetz eingewebt, aus dem er sich nicht nach Belieben hinausbegeben kann. 'Statt mit den Dingen, hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizelle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.' So hat es der Kulturphilosoph Ernst Cassirer in seinem Traktat über den Menschen 1944 formuliert. Die Behauptung also, die Konstruktion von Nationen beruhe auf Mythen, besagt, daß jenseits der Mythen eine objektive Realität existiere, die von den Nationalisten verzerrt werde. Ein solcher Objektivismus ist freilich nichts weiter als ein vergebliches Unterfangen, die Welt von nirgendwo zu sehen. Zur Beantwortung der Frage, warum und in welchen Formen Menschen sich ihrer selbst vergewissern, trägt diese Suche nach Authentizität nichts bei. Um es mit einem anderen Beispiel zu sagen: Ob der Gott der jüdisch-christlichen Überlieferung existiert oder nicht existiert, ist völlig gleichgültig gegenüber der Tatsache, in welchem Ausmaß die Vorstellung Gottes das Handeln und die Geschichte von Menschen bestimmt hat. Der Politikwissenschaftler Walker Connor verband diese Einsicht mit einer allgemeinen Theorie über Nationswerdung. In ihr sprach er vom Vorrang der Selbstidentifikation gegenüber scheinbar objektiven Kriterien wie Sprache, Territorium usw. Das Selbstbild sei es, die subjektive Selbstbindung des Einzelnen an eine Gruppe und sein Glaube, ihr und keiner anderen anzugehören, aus der sich die Nation hervorbringe. Daß Gemeinschaften konstruiert seien, spreche nicht gegen ihre Existenz: 'What ultimately matters is not what is but what people believe is.' Kurz: Die Dämonisierung der Nation, die aus den Texten der Konstruktivisten auch spricht, ergibt sich aus einem Verfahren, das die Symbolwelten, die nationale Gemeinschaften konstituieren, zu willkürlichen Konstruktionen von Nationalisten erklärt. Nationen sind aber keine Fata Morgana, die sich durch richtige Reflexion wieder auflösen, sie bestehen, solange ihre Mythen im Bewußtsein von Menschen verankert sind und für wahr gehalten werden. 'Traditions may be invented, but they only last if they have resonance.' Handlungsgewohnheiten wurzeln in bereits bestehenden Traditionen, in gemeinsamen Erinnerungen, die nicht willkürlich aus den Menschen durch Agitation hervorgebracht werden können. Der Kulturanthropologe Clifford Geertz sprach von primordialen Codes, von den in der frühen Kindheit vermittelten Gefühlen der Zugehörigkeit zu den nächsten Verwandten, zu einer bestimmten Religion, zu einer besonderen Sprache, zu spezifischen Normen und Bräuchen oder auch zu jener umgrenzten und überschaubaren Örtlichkeit, die man im Deutschen Heimat nennt. Diese Bindungen, so hat Geertz zu bedenken gegeben, seien stärker als jene, die Menschen in späteren Lebensphasen eingehen: Jene aus wirtschaftlichen Interessen und politischen Überzeugungen. Es ist der Appell an diese Gefühle und affektiv besetzten Bindungen, die den Erfolg ethnischer oder nationaler Vergemeinschaftung ermöglichen. Niemand hat diese affektiven Bindungen schöner beschrieben als Alain Corbin in seinem Buch über die Sprache der Glocken im Frankreich des 19. Jahrhunderts. 'Das Lesen der klanglichen Umwelt war damals ein Teil des Prozesses, in dem die Identität, die individuelle wie die kommunitaristische, hergestellt wurde. Das Glockenläuten war die Sprache eines Kommunikationssystems, das nach und nach zerfallen ist. Es regelte nach einem heute vergessenen Rhythmus die Beziehungen zwischen den Menschen sowie die zwischen den Lebenden und den Toten.' Die Amtsträger des französischen Staates hatten die Bedeutung dieses Identifikationssymbols erfaßt, als sie damit begannen, über die Glocke 'als Stimme einer Zentralgewalt zu gebieten, die vom Zentrum des Landes nach allen Seiten ausstrahlte'. Indem der Staat sie für eigene Zwecke instrumentalisierte und das Glockengeläut im weltlichen Kalender verankerte, stellte er das Gedenken in eine neue Tradition. Was Corbin über die Glocken im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts verkündete, hätte auch über den Gebetsruf des Muezzin, der die Gefühlswelt von Muslimen im Kaukasus stimulierte, gesagt werden können. Ethnische und nationale Selbstvergewisserungen beruhen auf Abgrenzung und Ausschluß. Man muß wissen, wer man nicht ist, um ganz bei sich zu sein. Wo unterschiedliche Welten aufeinandertreffen, werden Handlungsgewohnheiten, die im Alltag kaum je auf ihren Sinn hin befragt werden, reflexiv. So wird für eine Muslimin das Kopftuch doch erst dort zu einem Symbol ethnischer Abschließung, wo sie Menschen begegnet, die es nicht tragen und die es für einen Ausdruck von Fremdheit halten. Denn wer den Anderen als Fremden erkennt, sieht in ihm sich selbst. Bilder vom Fremden sind Tauschverhältnisse, in denen sich die Kultur, in der man steht, verändert und neu schöpft. Das gilt um so mehr für jene Situationen, in denen Kulturen einander bekriegen, wie es in kolonialistischen Gesellschaften geschieht, wenn Traditionen von der Kolonialmacht kriminialisiert und marginalisiert werden. Ethnischer Gemeinschaftsglaube besteht aus einer inklusiven und einer exklusiven Komponente, oder anders gesagt: 'Ethnizität provoziert immer Gegenethnizität.' Das ist auch der Grund, warum in Nationalstaaten, die durch kulturelle Homogenisierung die Gesellschaft zu 'modernisieren' und zu standardisieren versuchen, Menschen, die ihre Fremdheit nicht ablegen mögen, marginalisiert und ausgestoßen werden. In Vielvölkerstaaten lösen solche Versuche, Eindeutigkeit herzustellen, gewöhnlich gewalttätige Sezessionsbestrebungen aus. Der Weg in die Kommunikationsgesellschaft führt keineswegs in die Assimilation, wie Connor zu bedenken gegeben hat. Wo Menschen unterschiedlicher Abkunft miteinander in Kontakt geraten, so lehre die Erfahrung, werde der Ethnonationalismus nicht überwunden, sondern aufgerüstet. Wer dem Fremden begegne, ihn näher kennenlerne, werde im Glauben an die Einzigartigkeit der eigenen Gruppe bestärkt. Hobsbawm und seine marxistischen Adepten brachten für die kulturelle Gebundenheit menschlichen Lebens kein Interesse auf. Wo sich ihnen nicht zeigte, was es auch in Europa gab, Staat, Bürokratie, zivile Gesellschaft, bürgerliche Öffentlichkeit, Verfassungen und Parlamente, vermochten sie auch nichts zu entdecken. Eric Hobsbawm fand, Ethnien verwandelten sich nur dort in Nationen, wo sie in einer historischen Verbindung mit einem gegenwärtigen Staat stünden, über eine alteingesessene Elite geböten und die 'erwiesene Fähigkeit zur Eroberung' besäßen. Es ist das Hegelsche Erbe, das aus solchen Urteilen spricht, der Glaube, im Europa der Gegenwart zeige sich jene Zukunft, die dem Rest der Welt noch bevorstehe. Die Legitimation des Abendlandes als einer überlegenen Kultur schreibt sich doch nur von einer Ideologie her, nach deren Anschauung säkularisierte Kulturen nicht säkularen Kulturen überlegen sind. Nur wer diese Ideologie akzeptiert, kommt auch zu dem Urteil, die Überlegenheit des Abendlandes sei eine objektive Wertung. Das Mißverständnis, eine Nation sei nur, was sich in europäischer Verpackung als solche zu erkennen gibt, führt auf Holzwege, die keine Auswege mehr weisen. Kaukasusrepublik In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt u.
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Jörg Baberowski (Autor)

Der Feind ist überall: Stalinismus im Kaukasus [Gebundene Ausgabe] Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Zeitgeschichte islamische Kaukasusrepubliken Bolschewiki Kaukasusrepublik (2003)

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Deutsche Verlags-Anstalt, 2003. 2003. Hardcover. 22,7 x 15,9 x 4,8 cm. In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt und Tübingen gemeinsam verbrachte. Vieles, was in und zwischen den Zeilen steht, geht auf ihre Anregungen zurück. Für Zuspitzungen und Provokationen, ohne die dieser Text nicht auskommen konnte, bin ich selbst verantwortlich. Dietrich Geyer, der sich der Mühe unterzog, das ganze Manuskript zu lesen, danke ich für seine hilfreiche Kritik und die zahlreichen, anregenden Gespräche, die uns immer wieder zusammenführten. Ingrid Schierle und Margit Schneider sei Dank gesagt für die freundliche Atmosphäre, die sie im Tübinger Institut verbreiteten, Eberhard Müller, daß er nicht darin nachließ, die philosophische Dimension des historischen Arbeitens in Erinnerung zu rufen. Manfred Hildermeier, Dieter Langewiesche, Udo Sautter und Martin Zimmermann lasen das Manuskript als Gutachter. Ihre Kritik half mir, über die Konzeption des Buches neu nachzudenken. Michael Hochgeschwender schulde ich Dank für die gemeinsam veranstalteten Seminare, die mir die Welt jenseits des Atlantiks näherbrachten und die Sicht auf meinen eigenen Gegenstand schärften. Ohne die Hilfe von Maike Lehmann, die den gesamten Text durchsah, Fehler ausbesserte und Redundanzen beseitigte, wäre ich wahrscheinlich nie ans Ende gekommen. Auch ihr gilt mein herzlicher Dank. Claudia Weber, Susanne Schattenberg und Malte Rolf, meinen Kollegen in Leipzig und Berlin, danke ich für anregende Gespräche und die emotionale Unterstützung, die sie mir in den letzten zwei Jahren zuteil werden ließen. Mehr als sie es wahrscheinlich ahnen, haben mich die Studenten am Historischen Seminar der Universität Leipzig inspiriert. Sie gaben mir die Gewißheit, keiner nutzlosen Sache das Wort zu reden. In Petersburg half mir Vladimir V. Lapin, als er noch Direktor des Rußländischen Staatlichen Historischen Archivs war, mich im Dickicht der Dokumente zurechtzufinden. Niemand aber hat darin einen größeren Verdienst als Andrej Doronin, für dessen Aufopferung und Freundschaft Worte zu klein sind. Ohne seine Hilfe hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Dank sei auch den Mitarbeitern des Staatlichen Historischen Archivs der Republik Azerbajdzan in Baku, Zimma Babaeva und Fikret Aliev gesagt, die trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen sie leben und arbeiten mußten, alles taten, um mir bei meinen Nachforschungen zu helfen. Monika Schunder, Franziska Exeler, Manuela Putz und Natalja Stüdemann halfen bei der Anfertigung des Registers und hielten mich in meinem ersten Semester in Berlin bei guter Laune. Auch ihnen gilt mein herzlicher Dank. Daß aus dem Manuskript ein schönes Buch wurde, verdanke ich Stefan Ulrich Meyer von der Deutschen Verlags-Anstalt. Er opferte seine Weihnachtsferien, um aus einem wissenschaftlichen Buch ein lesbares zu machen. Ohne die Liebe meiner Frau Shiva aber wäre alles nichts. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Berlin, Mai 2003 Einleitung 'Der Feind ist überall. Der Feind ist im Kino, im Theater, in den Lehranstalten, in der Literatur, in den Behörden, in der Lebensweise, an allen Ecken und Enden gibt es feindliche Elemente.' Mit diesen Worten beschrieb der erste Sekretär der Azerbajdzanischen Kommunistischen Partei Ali Hejdar Karaev, wie er über die Wirklichkeit dachte, als er am 9. März 1929 zu den Delegierten des neunten Parteitages über die Kulturrevolution im sowjetischen Orient sprach. Wo Differenz und Ambivalenz, die Pluralität von Lebensstilen aufschienen, zeigte sich ihm nicht nur abweichendes Verhalten. Hier wurden für ihn Feinde, die sich in der Lebensweise der Untertanen verbargen, ans Licht der Welt gebracht. Es war die Aufgabe der Kommunisten, diese Feinde zu beseitigen. Macht ist eine Wirkung, die in Netzen zirkuliert, im Medium der Sprache, des Rituals und des Symbols. Macht tritt aber nur dort als Wirkung auf, wo sie sich in der Lebenspraxis des Alltags von selbst zur Anwendung bringt, wo sie nicht nur erduldet, sondern auch weitergegeben wird. Der totalitäre Entwurf lebte von der Vorstellung einer Macht, die alle Zweige des Gesellschaftskörpers durchströmte und in Bewegung hielt, Menschen beseelte und veränderte. Denn dort, wo die Macht 'an die Individuen rührt, ihre Körper ergreift, in ihre Gesten, in ihre Einstellungen, ihre Diskurse, ihr Lernen, ihr alltägliches Leben eindringt', konnte sich Fremdzwang in Selbstdisziplinierung verwandeln. 'Die Macht geht durch das Individuum, das sie konstituiert hat, hindurch', so hat Foucault zu bedenken gegeben. Macht war kein bloßer Reflex der Produktionsverhältnisse. Es waren die Bolschewiki selbst, die dem soziologischen Reduktionismus eine Absage erteilten. Die bolschewistische Unterstellung, im Verlauf der Geschichte werde der Mensch durch wahres Wissen zu sich selbst finden und mit der Entfremdung auch die Geschichte aufheben, schöpfte aus dem messianischen Sendungsbewußtsein der Revolutionäre. In diesem Sinn war der Bolschewismus eine säkularisierte Erlösungsideologie, die Partei sein Messias. Das Proletariat war keine soziologische Kategorie, sondern ein 'fortgeschrittener' Bewußtseinszustand. Proletarier zu sein, hieß, die Sprache der Bolschewiki zu sprechen, ihre Kleidung zu tragen und ihre Feste zu feiern. Nur so wird der Eifer verständlich, mit dem die neuen Machthaber allenthalben die Einübung von Diskursen, Praktiken, Moden und Attitüden, die Erziehung des neuen Menschen betrieben. Wo es gelang, die Kultur des neuen Menschen in die Alltagsrituale und den Sprachstil der Untertanen einzupflanzen, zeigte sich den Bolschewiki der Triumph ihrer Mission. Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Macht formiert sich stets gegen Widerstände, und sie zeigt sich auch nur dort, wo Widerstand aufscheint. Sie kann sich weder totalisieren noch selbst kontrollieren. Es ist das hinter Masken verborgene Individuum, das dem Disziplinierungsentwurf der Herrschaft seinen Eigensinn entgegensetzt, die Macht herausfordert und sich so stets neu konstituiert. In der frühen Sowjetunion zeigten sich die Wirkungen der bolschewistischen Macht nur ausnahmsweise, im städtischen Milieu der Intelligenz. Im Abseits, in den Dörfern und an der Peripherie des Imperiums, blieben die Ansprüche der Revolutionäre unvermittelt. Hier koexistierten parallele Netze der Macht, die einander nicht berührten. Für die Bolschewiki symbolisierte die Vielfalt nicht miteinander verbundener Unterwerfungstechniken Unordnung, Anarchie und Barbarei. Die moderne Welt, so wie die Bolschewiki sie verstanden, war übersichtlich und eindeutig. In ihr konnte es nur eine Technik der Auslegung und der Disziplinierung geben, und diese vertraten die neuen Machthaber selbst. Es ist stets übersehen worden, daß der stalinistische Terror aus einem Denkstil schöpfte, der menschliches Handeln in eine Teleologie der Erlösung einordnete und Ambivalenz als Widerstand von Feinden deutete. Und diese Deutung ergab sich aus der Konfrontation eschatologischer Heilserwartungen mit widerständigen Realitäten. Denn es mißlang den Bolschewiki, in der Unterwerfung konkurrierender Weltauslegungen eine Sprachlosigkeit herzustellen, die 'durch ihr eigenes Stummbleiben Schweigen gebietet'. Die hegemoniale Kultur übte keine Wirkung aus. Sie konnte die Kultur der Untertanen in der öffentlichen Inszenierung ihrer Ansprüche marginalisieren, aber sie vermochte sie nicht zu überwinden. Und deshalb zeigte sich in den Beziehungsnetzen des Alltags auch nicht die Macht des kommunistischen Diskurses. Die hegemoniale Kultur war ein hermetisches Bedeutungsgeflecht, das nicht über sich hinauswies und in dem die Bolschewiki heillos verfangen blieben. Was ein kultureller Austausch hätte werden können, wurde unter diesen Bedingungen zu einem Zwangsumtausch, der den Unterworfenen abverlangte, sich ihrer Kultur vollständig zu entledigen. Man könnte, was Karaev als Verhältnis von Feinden beschrieb, auch als verfehlte Zusammenkunft oder als Dialog zwischen Tauben bezeichnen." 'Es sind die undurchschauten Vorurteile, deren Herrschaft uns gegen die in der Überlieferung sprechende Sache taub macht', wie es Gadamer gesagt hat. Die Bolschewiki standen in einer Tradition, die ihre eigenen Vorurteile als voraussetzungslose Traditionslosigkeit ausgab. Dieses Denken, das vom Erbe der Auflärung mehr enthält, als mancher glaubt, unterstellte, die Welt könne vorurteilsfrei angeschaut und ihrer Mythen entkleidet werden. Wer nicht sah, was auch die Aufklärer sahen, bewies nur, daß er im Reich der Finsternis lebte. Je rückständiger und fremder sich die Umwelt in der Wahrnehmung der Bolschewiki präsentierte, desto größer war die Bereitschaft, sie mit Gewalt von ihrem Leiden an der Unvollkommenheit zu erlösen, Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. In seiner extremsten, bolschewistischen Variante triumphierte das Verlangen nach Eindeutigkeit und Homogenität in blutigem Terror. 'Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens, ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren - und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte. Intoleranz ist deshalb die natürliche Neigung der modernen Praxis. Konstruktion von Ordnung setzt der Eingliederung und der Zulassung Grenzen. Sie verlangt nach der Verneinung der Rechte - und der Gründe - all dessen, was nicht assimiliert werden kann - nach der Delegitimierung des Anderen', wie Zygmunt Bauman über das moderne Streben nach Eindeutigkeit geurteilt hat. Die Bolschewiki brachten ihre zivilisatorische Mission nicht aus dem Nichts hervor. Sie setzten fort, was ihre Vorgänger in der zarischen Bürokratie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Werk gesetzt hatten. Nur wäre es den Bürokraten des Zaren in ihrem Bemühen, Europa nach Rußland zu bringen und Lebensverhältnisse zu 'zivilisieren', nicht in den Sinn gekommen, die Barbarei mit den Mitteln der Barbarei aus der Welt zu schaffen. Sie wollten die 'Wilden' stattdessen durch aufgeklärtes Zureden vom Leiden an der Rückständigkeit erlösen. Die Bolschewiki indessen erlagen dem Wahn, es müßten Feinde vernichtet werden, um kulturelle Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. So aber führte der Kulturkonflikt in die unablässige Terrorisierung von Lebensverhältnissen. Der Stalinismus brachte sich aus dem Konflikt zwischen unverstandenen Welten hervor, im Zentrum wie an der Peripherie. Er war ein Zivilisationstyp, der im gewalttätigen Versuch, kulturelle Renitenz zu überwinden, zu sich kam. Das ist es, was Karaev meinte, als er davon sprach, der Feind zeige sich in der Lebensweise des Alltags. Darin lag die zerstörerische Potenz der stalinistischen Gewaltherrschaft: daß sie an der Stabilität der Lebensverhältnisse keinen Gefallen fand. Sie erschöpfte sich stattdessen in der unablässigen Terrorisierung der Bevölkerung, in der Zerstörung von Ordnung. Der Stalinismus war deshalb nicht die Überwindung einer 'schönen' Utopie, wie Richard Stites in seinem Buch über die revolutionären Träume in der frühen Sowjetunion behauptet hatte, sondern ihre eigentliche Vollstreckung. Was hier zur Sprache kommt, handelt von den kulturellen Ursprüngen des stalinistischen Terrors, wie er die Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre prägte. Ich beschränke mich darauf, diesen Zusammenhang exemplarisch, am Beispiel jener Auseinandersetzung zu beschreiben, die sich zwischen den Ordnungen des bolschewistischen Sozialismus und den Lebenswelten von Muslimen in der Kaukasusrepublik Azerbajdzan entfalteten. Warum Azerbajdzan? Was fernab des Moskauer Zentrums, jenseits des Großen Kaukasusgebirges geschah, sei doch nur eine Marginalie, die eine Erwähnung nicht lohne, so könnte man einwenden. Wer so spricht, verkennt jedoch, daß die Bedeutung eines Gegenstandes aus der Frage kommt, die Historiker an ihn richten. So ist es auch hier. Das Zarenreich und die Sowjetunion waren Vielvölkerreiche, an ihren südlichen Rändern im Kaukasus und in Zentralasien lebten mehrere Millionen Muslime sunnitischen und schiitischen Glaubens. Das Imperium beherbergte mehr als hundert Sprachen und Dialekte, seßhafte und nomadische, städtische und ländliche Lebensformen. Kurz: Das Sowjetimperium bestand nicht allein aus Russen und Slawen, auch wenn dieser Eindruck in der Geschichtsschreibung über das Zarenreich und die Sowjetunion bisweilen erweckt wird. Niemand, weder die zarischen Bürokraten noch ihre bolschewistischen Nachfolger, konnten in ihren politischen Entscheidungen von dieser Vielfalt der Ethnien, Sprachen und Kulturen absehen. Industrialisierung, Verstädterung und Kommunikationsverdichtung brachten Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion miteinander in Berührung. Vielerorts entfachten solche Kontakte Konflikte. Und wo die Staatsgewalt ihren Phantasien von der modernen Welt keine Zügel anlegte, geriet sie am Ende selbst in einen Gegensatz zu jenen, die sie 'russifizieren', zivilisieren oder aufklären wollte. An keinem anderen Ort zeigten sich die Konflikte des Vielvölkerreiches so unerbittlich wie in den muslimischen Kaukasus-Gouvernements Baku und Elizavetpol', die 1918 zur Republik Azerbajdzan verschmolzen. Die östlichen Territorien Transkaukasiens waren ethnisch und religiös heterogen, in ihren Städten lebten Muslime und Christen, Armenier, Türken und Russen neben- und miteinander. Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfaßte die Industrialisierung auch den Rand des Imperiums. Der Olboom verwandelte Baku, das städtische Zentrum der Region, in eine multiethnische Metropole, die sich aus dem Umland heraushob. Jenseits des städtischen Raumes standen seßhafte Bauern gegen Nomaden, Muslime gegen russische Siedler, Sunniten gegen Schiiten, Tal gegen Tal, Clan gegen Clan. Mit der Ankunft des Zentralstaates in der Region verwandelte sich diese in ein Experimentierfeld, auf dem die aufgeklärten Bürokraten des Zaren ihre Vorstellungen von der modernen Welt verwirklichen wollten. Mit den Beamten des Zaren kamen auch das europäische Recht, die Verwaltung, das Bildungswesen und die mit ihnen verbundenen Wertmaßstäbe an die Peripherie. Weil aber die Einheimischen solcher Bevormundung Widerstand entgegenbrachten, wurde, was als Projekt der Zivilisierung und Modernisierung auftrat, zu einer Diskriminierung und Zurücksetzung der Muslime. Wo Lebensformen kategorisiert und hierarchisiert wurden, traten sie einander nur noch als Ausschließlichkeit entgegen. So war es vor allem in Baku. Die Industriestadt am Kaspischen Meer verwandelte sich in einen Ort der Differenz, der nationalen, religiösen und sozialen Konflikte, die das 20. Jahrhundert beherrschten. Baku wurde zu einem Laboratorium der Xenophobie und der interethnischen Gewalt. Außerhalb der Städte löste die aufgeklärte Ignoranz, das Unverständnis, mit der die Bürokraten des Zaren ebenso wie die Kommunisten den Bauern gegenübertraten, blutige Konflikte aus, die sie am Ende nicht mehr unter ihre Kontrolle brachten. All jene Kulturkonflikte, Gewaltorgien und Katastrophen, wie sie die Sowjetunion der Stalin-Ära auszeichneten - hier liefen sie an einem Ort und zur gleichen Zeit zusammen. Nirgendwo sonst koexistierten die sozialen und kulturellen Zuschreibungen, Lebens- und Wirtschaftsformen, aus denen das Imperium bestand, auf solch kleinem Raum. Azerbajdzan repräsentierte das Imperium en miniature, alle Elemente, die dem Zarenreich und der Sowjetunion Spannung verliehen, waren hier vereint. Stalin und zahlreiche seiner engsten Mitstreiter und Gefolgsleute kamen aus der Kaukasusregion. Berija, Bagirov, Ordzonikidze, Mirzojan, Gikalo, Mikojan und die russischen 'Kaukasier', zu denen neben anderen vor allem Kirov gehörte, waren zweifellos die bedeutendsten Exponenten dieses Netzes. Mit ihnen ergriffen auch die Gewaltkultur der kaukasischen Peripherie, die Blutrache und archaische Vorstellungen von Ehre Besitz von der Partei, im Zentrum wie an den Rändern des Imperiums. So vermischte sich der Gewaltkult der Revolution mit den Gewalttraditionen jener Gesellschaften, die die Bolschewiki aus der Welt schaffen wollten. In den zentralasiatischen und kaukasischen Randzonen des Vielvölkerreiches wurden die Gewaltexzesse, wie sie in den 1930er Jahren in der gesamten Sowjetunion tobten, bereits früh eingeübt. Denn hier trafen die Bolschewiki auf eine Resistenz, die sie nur mit Waffengewalt brechen zu können glaubten. Manche jener bolschewistischen Terroristenkarrieren hatten an der asiatischen Peripherie ihren Ausgang genommen. Als Zivilisationstyp ist der Stalinismus nur in seiner imperialen Dimension verstehbar. Von ihr abzusehen, hieße, den Kontext aus dem Blick zu verlieren, aus dem sich die monströse Gewalt hervorbrachte. Das ist es, was eine Geschichte des Stalinismus im Kaukasus rechtfertigt. Eine Geschichte, die den kulturellen Ursprüngen des Stalinismus auf der Spur ist, begibt sich auf neue Wege. Bislang wurde das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in der westlichen wie der sowjetisch/ russischen Historiographie als Prozeß linearer Modernisierung beschrieben. Die Bolschewiki trafen demnach auf eine rückständige Peripherie und unterwarfen sie notwendiger Modernisierung. Eine solche Einschätzung wird man aber nur dann gewinnen, wenn die Maßstäbe für das Moderne, für das schlechthin Bessere aus den Ansprüchen der Kolonisierer gewonnen werden. Und das ist auch der Grund, warum die Geschichtsschreibung über die Erfahrungen, die vom hegemonialen Diskurs der Bolschewiki verdeckt wurden, Schweigen bewahrt. Sie sprach entweder von der Nationalitätenpolitik des Zentrums oder von den nationalen Programmen islamischer Eliten. Nun erwuchs die koloniale Strategie ebenso wie die Resistenz, die sich ihr entgegenwarf, aus der Begegnung. Wo Fremde einander näherkamen, veränderten sich ihre Vorstellungen vom Anderen. Was ein Russe, ein Armenier, Türke oder Muslim sei, diese Frage mußte im Blick auf das Andere stets neu gestellt und beantwortet werden. Davon aber konnte man in der historischen Literatur über das Zarenreich und die Sowjetunion - von Ausnahmen abgesehen, die sich auf das Zarenreich, nicht aber auf die Sowjetunion bezogen - nur wenig finden. Es waren nicht zuletzt Eric Hobsbawm, Benedict Anderson und Ernest Gellner, die mit ihren teleologischen und eurozentrischen Nationalismusmodellen den Blick der Historiker trübten. In den 1980er und frühen 1990er Jahren warteten sie in unterschiedlichen Varianten mit der Entdeckung auf, Traditionen seien menschliche Schöpfungen (inventions of tradition), Nationen vorgestellte Gemeinschaften (imagined communities). Gellner verstieg sich am Ende zu der Behauptung, die 'kulturellen Fetzen und Flicken, derer sich der Nationalismus bedient', seien nichts weiter als 'willkürliche historische Erfindungen'. 'Jeder beliebige alte Fetzen und Flicken hätte die gleichen Dienste getan.' Anderson sah die Nation als 'eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung einer Gemeinschaft existiert.' Als solche ist sie ein modernes Phänomen, sie ist an die Fähigkeit ihrer Mitglieder gebunden, miteinander über größere Räume hinweg zu kommunizieren und Glaubensbekenntnisse durch Wiederholung alltäglicher Rituale wachzuhalten. Nun spricht aber durch die Texte der Konstruktivisten vor allem die Sehnsucht nach der Überwindung von Nationen hindurch, nach der Widerlegung jener Vorstellung, Nationen seien urwüchsige, über Jahrhunderte bestehende und keinem Wandel unterworfene Gemeinschaften von Gleichgesinnten, deren Glaubenssätze die Wirklichkeit abbildeten. 'Daß Nationen als eine natürliche, gottgegebene Art der Klassifizierung von Menschen gelten - als ein politisches Geschick - ist ein Mythos. Der Nationalismus, der manchmal bereits bestehende Kulturen in Nationen umwandelt, erfindet manchmal Kulturen und vernichtet häufig tatsächlich bestehende Kulturen', wie Gellner es ausgedrückt hat. Zuerst: jede Gemeinschaft, die über einen vis a vis-Kontakt zwischen Menschen hinausreicht, ist vorgestellt. Denn was ist Religion, Stand, Klasse anderes als eine vorgestellte Gemeinschaft, die Menschen vor Stabilitätsverlusten bewahrt. Dann: Menschen sind in Bedeutungsnetzen, symbolischen Ordnungen verfangen, mit deren Hilfe sie ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen ordnen und Struktur in das Chaos des Alltags bringen. Der Mensch entkommt seinen Erfindungen nicht. Er lebt in einem symbolischen Universum, in Sprache, Mythos, Kunst und Religion, seine Erfahrungen sind in ein Symbolnetz eingewebt, aus dem er sich nicht nach Belieben hinausbegeben kann. 'Statt mit den Dingen, hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizelle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.' So hat es der Kulturphilosoph Ernst Cassirer in seinem Traktat über den Menschen 1944 formuliert. Die Behauptung also, die Konstruktion von Nationen beruhe auf Mythen, besagt, daß jenseits der Mythen eine objektive Realität existiere, die von den Nationalisten verzerrt werde. Ein solcher Objektivismus ist freilich nichts weiter als ein vergebliches Unterfangen, die Welt von nirgendwo zu sehen. Zur Beantwortung der Frage, warum und in welchen Formen Menschen sich ihrer selbst vergewissern, trägt diese Suche nach Authentizität nichts bei. Um es mit einem anderen Beispiel zu sagen: Ob der Gott der jüdisch-christlichen Überlieferung existiert oder nicht existiert, ist völlig gleichgültig gegenüber der Tatsache, in welchem Ausmaß die Vorstellung Gottes das Handeln und die Geschichte von Menschen bestimmt hat. Der Politikwissenschaftler Walker Connor verband diese Einsicht mit einer allgemeinen Theorie über Nationswerdung. In ihr sprach er vom Vorrang der Selbstidentifikation gegenüber scheinbar objektiven Kriterien wie Sprache, Territorium usw. Das Selbstbild sei es, die subjektive Selbstbindung des Einzelnen an eine Gruppe und sein Glaube, ihr und keiner anderen anzugehören, aus der sich die Nation hervorbringe. Daß Gemeinschaften konstruiert seien, spreche nicht gegen ihre Existenz: 'What ultimately matters is not what is but what people believe is.' Kurz: Die Dämonisierung der Nation, die aus den Texten der Konstruktivisten auch spricht, ergibt sich aus einem Verfahren, das die Symbolwelten, die nationale Gemeinschaften konstituieren, zu willkürlichen Konstruktionen von Nationalisten erklärt. Nationen sind aber keine Fata Morgana, die sich durch richtige Reflexion wieder auflösen, sie bestehen, solange ihre Mythen im Bewußtsein von Menschen verankert sind und für wahr gehalten werden. 'Traditions may be invented, but they only last if they have resonance.' Handlungsgewohnheiten wurzeln in bereits bestehenden Traditionen, in gemeinsamen Erinnerungen, die nicht willkürlich aus den Menschen durch Agitation hervorgebracht werden können. Der Kulturanthropologe Clifford Geertz sprach von primordialen Codes, von den in der frühen Kindheit vermittelten Gefühlen der Zugehörigkeit zu den nächsten Verwandten, zu einer bestimmten Religion, zu einer besonderen Sprache, zu spezifischen Normen und Bräuchen oder auch zu jener umgrenzten und überschaubaren Örtlichkeit, die man im Deutschen Heimat nennt. Diese Bindungen, so hat Geertz zu bedenken gegeben, seien stärker als jene, die Menschen in späteren Lebensphasen eingehen: Jene aus wirtschaftlichen Interessen und politischen Überzeugungen. Es ist der Appell an diese Gefühle und affektiv besetzten Bindungen, die den Erfolg ethnischer oder nationaler Vergemeinschaftung ermöglichen. Niemand hat diese affektiven Bindungen schöner beschrieben als Alain Corbin in seinem Buch über die Sprache der Glocken im Frankreich des 19. Jahrhunderts. 'Das Lesen der klanglichen Umwelt war damals ein Teil des Prozesses, in dem die Identität, die individuelle wie die kommunitaristische, hergestellt wurde. Das Glockenläuten war die Sprache eines Kommunikationssystems, das nach und nach zerfallen ist. Es regelte nach einem heute vergessenen Rhythmus die Beziehungen zwischen den Menschen sowie die zwischen den Lebenden und den Toten.' Die Amtsträger des französischen Staates hatten die Bedeutung dieses Identifikationssymbols erfaßt, als sie damit begannen, über die Glocke 'als Stimme einer Zentralgewalt zu gebieten, die vom Zentrum des Landes nach allen Seiten ausstrahlte'. Indem der Staat sie für eigene Zwecke instrumentalisierte und das Glockengeläut im weltlichen Kalender verankerte, stellte er das Gedenken in eine neue Tradition. Was Corbin über die Glocken im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts verkündete, hätte auch über den Gebetsruf des Muezzin, der die Gefühlswelt von Muslimen im Kaukasus stimulierte, gesagt werden können. Ethnische und nationale Selbstvergewisserungen beruhen auf Abgrenzung und Ausschluß. Man muß wissen, wer man nicht ist, um ganz bei sich zu sein. Wo unterschiedliche Welten aufeinandertreffen, werden Handlungsgewohnheiten, die im Alltag kaum je auf ihren Sinn hin befragt werden, reflexiv. So wird für eine Muslimin das Kopftuch doch erst dort zu einem Symbol ethnischer Abschließung, wo sie Menschen begegnet, die es nicht tragen und die es für einen Ausdruck von Fremdheit halten. Denn wer den Anderen als Fremden erkennt, sieht in ihm sich selbst. Bilder vom Fremden sind Tauschverhältnisse, in denen sich die Kultur, in der man steht, verändert und neu schöpft. Das gilt um so mehr für jene Situationen, in denen Kulturen einander bekriegen, wie es in kolonialistischen Gesellschaften geschieht, wenn Traditionen von der Kolonialmacht kriminialisiert und marginalisiert werden. Ethnischer Gemeinschaftsglaube besteht aus einer inklusiven und einer exklusiven Komponente, oder anders gesagt: 'Ethnizität provoziert immer Gegenethnizität.' Das ist auch der Grund, warum in Nationalstaaten, die durch kulturelle Homogenisierung die Gesellschaft zu 'modernisieren' und zu standardisieren versuchen, Menschen, die ihre Fremdheit nicht ablegen mögen, marginalisiert und ausgestoßen werden. In Vielvölkerstaaten lösen solche Versuche, Eindeutigkeit herzustellen, gewöhnlich gewalttätige Sezessionsbestrebungen aus. Der Weg in die Kommunikationsgesellschaft führt keineswegs in die Assimilation, wie Connor zu bedenken gegeben hat. Wo Menschen unterschiedlicher Abkunft miteinander in Kontakt geraten, so lehre die Erfahrung, werde der Ethnonationalismus nicht überwunden, sondern aufgerüstet. Wer dem Fremden begegne, ihn näher kennenlerne, werde im Glauben an die Einzigartigkeit der eigenen Gruppe bestärkt. Hobsbawm und seine marxistischen Adepten brachten für die kulturelle Gebundenheit menschlichen Lebens kein Interesse auf. Wo sich ihnen nicht zeigte, was es auch in Europa gab, Staat, Bürokratie, zivile Gesellschaft, bürgerliche Öffentlichkeit, Verfassungen und Parlamente, vermochten sie auch nichts zu entdecken. Eric Hobsbawm fand, Ethnien verwandelten sich nur dort in Nationen, wo sie in einer historischen Verbindung mit einem gegenwärtigen Staat stünden, über eine alteingesessene Elite geböten und die 'erwiesene Fähigkeit zur Eroberung' besäßen. Es ist das Hegelsche Erbe, das aus solchen Urteilen spricht, der Glaube, im Europa der Gegenwart zeige sich jene Zukunft, die dem Rest der Welt noch bevorstehe. Die Legitimation des Abendlandes als einer überlegenen Kultur schreibt sich doch nur von einer Ideologie her, nach deren Anschauung säkularisierte Kulturen nicht säkularen Kulturen überlegen sind. Nur wer diese Ideologie akzeptiert, kommt auch zu dem Urteil, die Überlegenheit des Abendlandes sei eine objektive Wertung. Das Mißverständnis, eine Nation sei nur, was sich in europäischer Verpackung als solche zu erkennen gibt, führt auf Holzwege, die keine Auswege mehr weisen. Kaukasusrepublik In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt u.
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Jörg Baberowski (Autor)

Der Feind ist überall: Stalinismus im Kaukasus [Gebundene Ausgabe] Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Zeitgeschichte islamische Kaukasusrepubliken Bolschewiki Kaukasusrepublik (2003)

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Deutsche Verlags-Anstalt, 2003. 2003. Hardcover. 22,7 x 15,9 x 4,8 cm. In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt und Tübingen gemeinsam verbrachte. Vieles, was in und zwischen den Zeilen steht, geht auf ihre Anregungen zurück. Für Zuspitzungen und Provokationen, ohne die dieser Text nicht auskommen konnte, bin ich selbst verantwortlich. Dietrich Geyer, der sich der Mühe unterzog, das ganze Manuskript zu lesen, danke ich für seine hilfreiche Kritik und die zahlreichen, anregenden Gespräche, die uns immer wieder zusammenführten. Ingrid Schierle und Margit Schneider sei Dank gesagt für die freundliche Atmosphäre, die sie im Tübinger Institut verbreiteten, Eberhard Müller, daß er nicht darin nachließ, die philosophische Dimension des historischen Arbeitens in Erinnerung zu rufen. Manfred Hildermeier, Dieter Langewiesche, Udo Sautter und Martin Zimmermann lasen das Manuskript als Gutachter. Ihre Kritik half mir, über die Konzeption des Buches neu nachzudenken. Michael Hochgeschwender schulde ich Dank für die gemeinsam veranstalteten Seminare, die mir die Welt jenseits des Atlantiks näherbrachten und die Sicht auf meinen eigenen Gegenstand schärften. Ohne die Hilfe von Maike Lehmann, die den gesamten Text durchsah, Fehler ausbesserte und Redundanzen beseitigte, wäre ich wahrscheinlich nie ans Ende gekommen. Auch ihr gilt mein herzlicher Dank. Claudia Weber, Susanne Schattenberg und Malte Rolf, meinen Kollegen in Leipzig und Berlin, danke ich für anregende Gespräche und die emotionale Unterstützung, die sie mir in den letzten zwei Jahren zuteil werden ließen. Mehr als sie es wahrscheinlich ahnen, haben mich die Studenten am Historischen Seminar der Universität Leipzig inspiriert. Sie gaben mir die Gewißheit, keiner nutzlosen Sache das Wort zu reden. In Petersburg half mir Vladimir V. Lapin, als er noch Direktor des Rußländischen Staatlichen Historischen Archivs war, mich im Dickicht der Dokumente zurechtzufinden. Niemand aber hat darin einen größeren Verdienst als Andrej Doronin, für dessen Aufopferung und Freundschaft Worte zu klein sind. Ohne seine Hilfe hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Dank sei auch den Mitarbeitern des Staatlichen Historischen Archivs der Republik Azerbajdzan in Baku, Zimma Babaeva und Fikret Aliev gesagt, die trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen sie leben und arbeiten mußten, alles taten, um mir bei meinen Nachforschungen zu helfen. Monika Schunder, Franziska Exeler, Manuela Putz und Natalja Stüdemann halfen bei der Anfertigung des Registers und hielten mich in meinem ersten Semester in Berlin bei guter Laune. Auch ihnen gilt mein herzlicher Dank. Daß aus dem Manuskript ein schönes Buch wurde, verdanke ich Stefan Ulrich Meyer von der Deutschen Verlags-Anstalt. Er opferte seine Weihnachtsferien, um aus einem wissenschaftlichen Buch ein lesbares zu machen. Ohne die Liebe meiner Frau Shiva aber wäre alles nichts. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Berlin, Mai 2003 Einleitung 'Der Feind ist überall. Der Feind ist im Kino, im Theater, in den Lehranstalten, in der Literatur, in den Behörden, in der Lebensweise, an allen Ecken und Enden gibt es feindliche Elemente.' Mit diesen Worten beschrieb der erste Sekretär der Azerbajdzanischen Kommunistischen Partei Ali Hejdar Karaev, wie er über die Wirklichkeit dachte, als er am 9. März 1929 zu den Delegierten des neunten Parteitages über die Kulturrevolution im sowjetischen Orient sprach. Wo Differenz und Ambivalenz, die Pluralität von Lebensstilen aufschienen, zeigte sich ihm nicht nur abweichendes Verhalten. Hier wurden für ihn Feinde, die sich in der Lebensweise der Untertanen verbargen, ans Licht der Welt gebracht. Es war die Aufgabe der Kommunisten, diese Feinde zu beseitigen. Macht ist eine Wirkung, die in Netzen zirkuliert, im Medium der Sprache, des Rituals und des Symbols. Macht tritt aber nur dort als Wirkung auf, wo sie sich in der Lebenspraxis des Alltags von selbst zur Anwendung bringt, wo sie nicht nur erduldet, sondern auch weitergegeben wird. Der totalitäre Entwurf lebte von der Vorstellung einer Macht, die alle Zweige des Gesellschaftskörpers durchströmte und in Bewegung hielt, Menschen beseelte und veränderte. Denn dort, wo die Macht 'an die Individuen rührt, ihre Körper ergreift, in ihre Gesten, in ihre Einstellungen, ihre Diskurse, ihr Lernen, ihr alltägliches Leben eindringt', konnte sich Fremdzwang in Selbstdisziplinierung verwandeln. 'Die Macht geht durch das Individuum, das sie konstituiert hat, hindurch', so hat Foucault zu bedenken gegeben. Macht war kein bloßer Reflex der Produktionsverhältnisse. Es waren die Bolschewiki selbst, die dem soziologischen Reduktionismus eine Absage erteilten. Die bolschewistische Unterstellung, im Verlauf der Geschichte werde der Mensch durch wahres Wissen zu sich selbst finden und mit der Entfremdung auch die Geschichte aufheben, schöpfte aus dem messianischen Sendungsbewußtsein der Revolutionäre. In diesem Sinn war der Bolschewismus eine säkularisierte Erlösungsideologie, die Partei sein Messias. Das Proletariat war keine soziologische Kategorie, sondern ein 'fortgeschrittener' Bewußtseinszustand. Proletarier zu sein, hieß, die Sprache der Bolschewiki zu sprechen, ihre Kleidung zu tragen und ihre Feste zu feiern. Nur so wird der Eifer verständlich, mit dem die neuen Machthaber allenthalben die Einübung von Diskursen, Praktiken, Moden und Attitüden, die Erziehung des neuen Menschen betrieben. Wo es gelang, die Kultur des neuen Menschen in die Alltagsrituale und den Sprachstil der Untertanen einzupflanzen, zeigte sich den Bolschewiki der Triumph ihrer Mission. Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Macht formiert sich stets gegen Widerstände, und sie zeigt sich auch nur dort, wo Widerstand aufscheint. Sie kann sich weder totalisieren noch selbst kontrollieren. Es ist das hinter Masken verborgene Individuum, das dem Disziplinierungsentwurf der Herrschaft seinen Eigensinn entgegensetzt, die Macht herausfordert und sich so stets neu konstituiert. In der frühen Sowjetunion zeigten sich die Wirkungen der bolschewistischen Macht nur ausnahmsweise, im städtischen Milieu der Intelligenz. Im Abseits, in den Dörfern und an der Peripherie des Imperiums, blieben die Ansprüche der Revolutionäre unvermittelt. Hier koexistierten parallele Netze der Macht, die einander nicht berührten. Für die Bolschewiki symbolisierte die Vielfalt nicht miteinander verbundener Unterwerfungstechniken Unordnung, Anarchie und Barbarei. Die moderne Welt, so wie die Bolschewiki sie verstanden, war übersichtlich und eindeutig. In ihr konnte es nur eine Technik der Auslegung und der Disziplinierung geben, und diese vertraten die neuen Machthaber selbst. Es ist stets übersehen worden, daß der stalinistische Terror aus einem Denkstil schöpfte, der menschliches Handeln in eine Teleologie der Erlösung einordnete und Ambivalenz als Widerstand von Feinden deutete. Und diese Deutung ergab sich aus der Konfrontation eschatologischer Heilserwartungen mit widerständigen Realitäten. Denn es mißlang den Bolschewiki, in der Unterwerfung konkurrierender Weltauslegungen eine Sprachlosigkeit herzustellen, die 'durch ihr eigenes Stummbleiben Schweigen gebietet'. Die hegemoniale Kultur übte keine Wirkung aus. Sie konnte die Kultur der Untertanen in der öffentlichen Inszenierung ihrer Ansprüche marginalisieren, aber sie vermochte sie nicht zu überwinden. Und deshalb zeigte sich in den Beziehungsnetzen des Alltags auch nicht die Macht des kommunistischen Diskurses. Die hegemoniale Kultur war ein hermetisches Bedeutungsgeflecht, das nicht über sich hinauswies und in dem die Bolschewiki heillos verfangen blieben. Was ein kultureller Austausch hätte werden können, wurde unter diesen Bedingungen zu einem Zwangsumtausch, der den Unterworfenen abverlangte, sich ihrer Kultur vollständig zu entledigen. Man könnte, was Karaev als Verhältnis von Feinden beschrieb, auch als verfehlte Zusammenkunft oder als Dialog zwischen Tauben bezeichnen." 'Es sind die undurchschauten Vorurteile, deren Herrschaft uns gegen die in der Überlieferung sprechende Sache taub macht', wie es Gadamer gesagt hat. Die Bolschewiki standen in einer Tradition, die ihre eigenen Vorurteile als voraussetzungslose Traditionslosigkeit ausgab. Dieses Denken, das vom Erbe der Auflärung mehr enthält, als mancher glaubt, unterstellte, die Welt könne vorurteilsfrei angeschaut und ihrer Mythen entkleidet werden. Wer nicht sah, was auch die Aufklärer sahen, bewies nur, daß er im Reich der Finsternis lebte. Je rückständiger und fremder sich die Umwelt in der Wahrnehmung der Bolschewiki präsentierte, desto größer war die Bereitschaft, sie mit Gewalt von ihrem Leiden an der Unvollkommenheit zu erlösen, Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. In seiner extremsten, bolschewistischen Variante triumphierte das Verlangen nach Eindeutigkeit und Homogenität in blutigem Terror. 'Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens, ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren - und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte. Intoleranz ist deshalb die natürliche Neigung der modernen Praxis. Konstruktion von Ordnung setzt der Eingliederung und der Zulassung Grenzen. Sie verlangt nach der Verneinung der Rechte - und der Gründe - all dessen, was nicht assimiliert werden kann - nach der Delegitimierung des Anderen', wie Zygmunt Bauman über das moderne Streben nach Eindeutigkeit geurteilt hat. Die Bolschewiki brachten ihre zivilisatorische Mission nicht aus dem Nichts hervor. Sie setzten fort, was ihre Vorgänger in der zarischen Bürokratie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Werk gesetzt hatten. Nur wäre es den Bürokraten des Zaren in ihrem Bemühen, Europa nach Rußland zu bringen und Lebensverhältnisse zu 'zivilisieren', nicht in den Sinn gekommen, die Barbarei mit den Mitteln der Barbarei aus der Welt zu schaffen. Sie wollten die 'Wilden' stattdessen durch aufgeklärtes Zureden vom Leiden an der Rückständigkeit erlösen. Die Bolschewiki indessen erlagen dem Wahn, es müßten Feinde vernichtet werden, um kulturelle Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. So aber führte der Kulturkonflikt in die unablässige Terrorisierung von Lebensverhältnissen. Der Stalinismus brachte sich aus dem Konflikt zwischen unverstandenen Welten hervor, im Zentrum wie an der Peripherie. Er war ein Zivilisationstyp, der im gewalttätigen Versuch, kulturelle Renitenz zu überwinden, zu sich kam. Das ist es, was Karaev meinte, als er davon sprach, der Feind zeige sich in der Lebensweise des Alltags. Darin lag die zerstörerische Potenz der stalinistischen Gewaltherrschaft: daß sie an der Stabilität der Lebensverhältnisse keinen Gefallen fand. Sie erschöpfte sich stattdessen in der unablässigen Terrorisierung der Bevölkerung, in der Zerstörung von Ordnung. Der Stalinismus war deshalb nicht die Überwindung einer 'schönen' Utopie, wie Richard Stites in seinem Buch über die revolutionären Träume in der frühen Sowjetunion behauptet hatte, sondern ihre eigentliche Vollstreckung. Was hier zur Sprache kommt, handelt von den kulturellen Ursprüngen des stalinistischen Terrors, wie er die Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre prägte. Ich beschränke mich darauf, diesen Zusammenhang exemplarisch, am Beispiel jener Auseinandersetzung zu beschreiben, die sich zwischen den Ordnungen des bolschewistischen Sozialismus und den Lebenswelten von Muslimen in der Kaukasusrepublik Azerbajdzan entfalteten. Warum Azerbajdzan? Was fernab des Moskauer Zentrums, jenseits des Großen Kaukasusgebirges geschah, sei doch nur eine Marginalie, die eine Erwähnung nicht lohne, so könnte man einwenden. Wer so spricht, verkennt jedoch, daß die Bedeutung eines Gegenstandes aus der Frage kommt, die Historiker an ihn richten. So ist es auch hier. Das Zarenreich und die Sowjetunion waren Vielvölkerreiche, an ihren südlichen Rändern im Kaukasus und in Zentralasien lebten mehrere Millionen Muslime sunnitischen und schiitischen Glaubens. Das Imperium beherbergte mehr als hundert Sprachen und Dialekte, seßhafte und nomadische, städtische und ländliche Lebensformen. Kurz: Das Sowjetimperium bestand nicht allein aus Russen und Slawen, auch wenn dieser Eindruck in der Geschichtsschreibung über das Zarenreich und die Sowjetunion bisweilen erweckt wird. Niemand, weder die zarischen Bürokraten noch ihre bolschewistischen Nachfolger, konnten in ihren politischen Entscheidungen von dieser Vielfalt der Ethnien, Sprachen und Kulturen absehen. Industrialisierung, Verstädterung und Kommunikationsverdichtung brachten Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion miteinander in Berührung. Vielerorts entfachten solche Kontakte Konflikte. Und wo die Staatsgewalt ihren Phantasien von der modernen Welt keine Zügel anlegte, geriet sie am Ende selbst in einen Gegensatz zu jenen, die sie 'russifizieren', zivilisieren oder aufklären wollte. An keinem anderen Ort zeigten sich die Konflikte des Vielvölkerreiches so unerbittlich wie in den muslimischen Kaukasus-Gouvernements Baku und Elizavetpol', die 1918 zur Republik Azerbajdzan verschmolzen. Die östlichen Territorien Transkaukasiens waren ethnisch und religiös heterogen, in ihren Städten lebten Muslime und Christen, Armenier, Türken und Russen neben- und miteinander. Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfaßte die Industrialisierung auch den Rand des Imperiums. Der Olboom verwandelte Baku, das städtische Zentrum der Region, in eine multiethnische Metropole, die sich aus dem Umland heraushob. Jenseits des städtischen Raumes standen seßhafte Bauern gegen Nomaden, Muslime gegen russische Siedler, Sunniten gegen Schiiten, Tal gegen Tal, Clan gegen Clan. Mit der Ankunft des Zentralstaates in der Region verwandelte sich diese in ein Experimentierfeld, auf dem die aufgeklärten Bürokraten des Zaren ihre Vorstellungen von der modernen Welt verwirklichen wollten. Mit den Beamten des Zaren kamen auch das europäische Recht, die Verwaltung, das Bildungswesen und die mit ihnen verbundenen Wertmaßstäbe an die Peripherie. Weil aber die Einheimischen solcher Bevormundung Widerstand entgegenbrachten, wurde, was als Projekt der Zivilisierung und Modernisierung auftrat, zu einer Diskriminierung und Zurücksetzung der Muslime. Wo Lebensformen kategorisiert und hierarchisiert wurden, traten sie einander nur noch als Ausschließlichkeit entgegen. So war es vor allem in Baku. Die Industriestadt am Kaspischen Meer verwandelte sich in einen Ort der Differenz, der nationalen, religiösen und sozialen Konflikte, die das 20. Jahrhundert beherrschten. Baku wurde zu einem Laboratorium der Xenophobie und der interethnischen Gewalt. Außerhalb der Städte löste die aufgeklärte Ignoranz, das Unverständnis, mit der die Bürokraten des Zaren ebenso wie die Kommunisten den Bauern gegenübertraten, blutige Konflikte aus, die sie am Ende nicht mehr unter ihre Kontrolle brachten. All jene Kulturkonflikte, Gewaltorgien und Katastrophen, wie sie die Sowjetunion der Stalin-Ära auszeichneten - hier liefen sie an einem Ort und zur gleichen Zeit zusammen. Nirgendwo sonst koexistierten die sozialen und kulturellen Zuschreibungen, Lebens- und Wirtschaftsformen, aus denen das Imperium bestand, auf solch kleinem Raum. Azerbajdzan repräsentierte das Imperium en miniature, alle Elemente, die dem Zarenreich und der Sowjetunion Spannung verliehen, waren hier vereint. Stalin und zahlreiche seiner engsten Mitstreiter und Gefolgsleute kamen aus der Kaukasusregion. Berija, Bagirov, Ordzonikidze, Mirzojan, Gikalo, Mikojan und die russischen 'Kaukasier', zu denen neben anderen vor allem Kirov gehörte, waren zweifellos die bedeutendsten Exponenten dieses Netzes. Mit ihnen ergriffen auch die Gewaltkultur der kaukasischen Peripherie, die Blutrache und archaische Vorstellungen von Ehre Besitz von der Partei, im Zentrum wie an den Rändern des Imperiums. So vermischte sich der Gewaltkult der Revolution mit den Gewalttraditionen jener Gesellschaften, die die Bolschewiki aus der Welt schaffen wollten. In den zentralasiatischen und kaukasischen Randzonen des Vielvölkerreiches wurden die Gewaltexzesse, wie sie in den 1930er Jahren in der gesamten Sowjetunion tobten, bereits früh eingeübt. Denn hier trafen die Bolschewiki auf eine Resistenz, die sie nur mit Waffengewalt brechen zu können glaubten. Manche jener bolschewistischen Terroristenkarrieren hatten an der asiatischen Peripherie ihren Ausgang genommen. Als Zivilisationstyp ist der Stalinismus nur in seiner imperialen Dimension verstehbar. Von ihr abzusehen, hieße, den Kontext aus dem Blick zu verlieren, aus dem sich die monströse Gewalt hervorbrachte. Das ist es, was eine Geschichte des Stalinismus im Kaukasus rechtfertigt. Eine Geschichte, die den kulturellen Ursprüngen des Stalinismus auf der Spur ist, begibt sich auf neue Wege. Bislang wurde das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in der westlichen wie der sowjetisch/ russischen Historiographie als Prozeß linearer Modernisierung beschrieben. Die Bolschewiki trafen demnach auf eine rückständige Peripherie und unterwarfen sie notwendiger Modernisierung. Eine solche Einschätzung wird man aber nur dann gewinnen, wenn die Maßstäbe für das Moderne, für das schlechthin Bessere aus den Ansprüchen der Kolonisierer gewonnen werden. Und das ist auch der Grund, warum die Geschichtsschreibung über die Erfahrungen, die vom hegemonialen Diskurs der Bolschewiki verdeckt wurden, Schweigen bewahrt. Sie sprach entweder von der Nationalitätenpolitik des Zentrums oder von den nationalen Programmen islamischer Eliten. Nun erwuchs die koloniale Strategie ebenso wie die Resistenz, die sich ihr entgegenwarf, aus der Begegnung. Wo Fremde einander näherkamen, veränderten sich ihre Vorstellungen vom Anderen. Was ein Russe, ein Armenier, Türke oder Muslim sei, diese Frage mußte im Blick auf das Andere stets neu gestellt und beantwortet werden. Davon aber konnte man in der historischen Literatur über das Zarenreich und die Sowjetunion - von Ausnahmen abgesehen, die sich auf das Zarenreich, nicht aber auf die Sowjetunion bezogen - nur wenig finden. Es waren nicht zuletzt Eric Hobsbawm, Benedict Anderson und Ernest Gellner, die mit ihren teleologischen und eurozentrischen Nationalismusmodellen den Blick der Historiker trübten. In den 1980er und frühen 1990er Jahren warteten sie in unterschiedlichen Varianten mit der Entdeckung auf, Traditionen seien menschliche Schöpfungen (inventions of tradition), Nationen vorgestellte Gemeinschaften (imagined communities). Gellner verstieg sich am Ende zu der Behauptung, die 'kulturellen Fetzen und Flicken, derer sich der Nationalismus bedient', seien nichts weiter als 'willkürliche historische Erfindungen'. 'Jeder beliebige alte Fetzen und Flicken hätte die gleichen Dienste getan.' Anderson sah die Nation als 'eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung einer Gemeinschaft existiert.' Als solche ist sie ein modernes Phänomen, sie ist an die Fähigkeit ihrer Mitglieder gebunden, miteinander über größere Räume hinweg zu kommunizieren und Glaubensbekenntnisse durch Wiederholung alltäglicher Rituale wachzuhalten. Nun spricht aber durch die Texte der Konstruktivisten vor allem die Sehnsucht nach der Überwindung von Nationen hindurch, nach der Widerlegung jener Vorstellung, Nationen seien urwüchsige, über Jahrhunderte bestehende und keinem Wandel unterworfene Gemeinschaften von Gleichgesinnten, deren Glaubenssätze die Wirklichkeit abbildeten. 'Daß Nationen als eine natürliche, gottgegebene Art der Klassifizierung von Menschen gelten - als ein politisches Geschick - ist ein Mythos. Der Nationalismus, der manchmal bereits bestehende Kulturen in Nationen umwandelt, erfindet manchmal Kulturen und vernichtet häufig tatsächlich bestehende Kulturen', wie Gellner es ausgedrückt hat. Zuerst: jede Gemeinschaft, die über einen vis a vis-Kontakt zwischen Menschen hinausreicht, ist vorgestellt. Denn was ist Religion, Stand, Klasse anderes als eine vorgestellte Gemeinschaft, die Menschen vor Stabilitätsverlusten bewahrt. Dann: Menschen sind in Bedeutungsnetzen, symbolischen Ordnungen verfangen, mit deren Hilfe sie ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen ordnen und Struktur in das Chaos des Alltags bringen. Der Mensch entkommt seinen Erfindungen nicht. Er lebt in einem symbolischen Universum, in Sprache, Mythos, Kunst und Religion, seine Erfahrungen sind in ein Symbolnetz eingewebt, aus dem er sich nicht nach Belieben hinausbegeben kann. 'Statt mit den Dingen, hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizelle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.' So hat es der Kulturphilosoph Ernst Cassirer in seinem Traktat über den Menschen 1944 formuliert. Die Behauptung also, die Konstruktion von Nationen beruhe auf Mythen, besagt, daß jenseits der Mythen eine objektive Realität existiere, die von den Nationalisten verzerrt werde. Ein solcher Objektivismus ist freilich nichts weiter als ein vergebliches Unterfangen, die Welt von nirgendwo zu sehen. Zur Beantwortung der Frage, warum und in welchen Formen Menschen sich ihrer selbst vergewissern, trägt diese Suche nach Authentizität nichts bei. Um es mit einem anderen Beispiel zu sagen: Ob der Gott der jüdisch-christlichen Überlieferung existiert oder nicht existiert, ist völlig gleichgültig gegenüber der Tatsache, in welchem Ausmaß die Vorstellung Gottes das Handeln und die Geschichte von Menschen bestimmt hat. Der Politikwissenschaftler Walker Connor verband diese Einsicht mit einer allgemeinen Theorie über Nationswerdung. In ihr sprach er vom Vorrang der Selbstidentifikation gegenüber scheinbar objektiven Kriterien wie Sprache, Territorium usw. Das Selbstbild sei es, die subjektive Selbstbindung des Einzelnen an eine Gruppe und sein Glaube, ihr und keiner anderen anzugehören, aus der sich die Nation hervorbringe. Daß Gemeinschaften konstruiert seien, spreche nicht gegen ihre Existenz: 'What ultimately matters is not what is but what people believe is.' Kurz: Die Dämonisierung der Nation, die aus den Texten der Konstruktivisten auch spricht, ergibt sich aus einem Verfahren, das die Symbolwelten, die nationale Gemeinschaften konstituieren, zu willkürlichen Konstruktionen von Nationalisten erklärt. Nationen sind aber keine Fata Morgana, die sich durch richtige Reflexion wieder auflösen, sie bestehen, solange ihre Mythen im Bewußtsein von Menschen verankert sind und für wahr gehalten werden. 'Traditions may be invented, but they only last if they have resonance.' Handlungsgewohnheiten wurzeln in bereits bestehenden Traditionen, in gemeinsamen Erinnerungen, die nicht willkürlich aus den Menschen durch Agitation hervorgebracht werden können. Der Kulturanthropologe Clifford Geertz sprach von primordialen Codes, von den in der frühen Kindheit vermittelten Gefühlen der Zugehörigkeit zu den nächsten Verwandten, zu einer bestimmten Religion, zu einer besonderen Sprache, zu spezifischen Normen und Bräuchen oder auch zu jener umgrenzten und überschaubaren Örtlichkeit, die man im Deutschen Heimat nennt. Diese Bindungen, so hat Geertz zu bedenken gegeben, seien stärker als jene, die Menschen in späteren Lebensphasen eingehen: Jene aus wirtschaftlichen Interessen und politischen Überzeugungen. Es ist der Appell an diese Gefühle und affektiv besetzten Bindungen, die den Erfolg ethnischer oder nationaler Vergemeinschaftung ermöglichen. Niemand hat diese affektiven Bindungen schöner beschrieben als Alain Corbin in seinem Buch über die Sprache der Glocken im Frankreich des 19. Jahrhunderts. 'Das Lesen der klanglichen Umwelt war damals ein Teil des Prozesses, in dem die Identität, die individuelle wie die kommunitaristische, hergestellt wurde. Das Glockenläuten war die Sprache eines Kommunikationssystems, das nach und nach zerfallen ist. Es regelte nach einem heute vergessenen Rhythmus die Beziehungen zwischen den Menschen sowie die zwischen den Lebenden und den Toten.' Die Amtsträger des französischen Staates hatten die Bedeutung dieses Identifikationssymbols erfaßt, als sie damit begannen, über die Glocke 'als Stimme einer Zentralgewalt zu gebieten, die vom Zentrum des Landes nach allen Seiten ausstrahlte'. Indem der Staat sie für eigene Zwecke instrumentalisierte und das Glockengeläut im weltlichen Kalender verankerte, stellte er das Gedenken in eine neue Tradition. Was Corbin über die Glocken im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts verkündete, hätte auch über den Gebetsruf des Muezzin, der die Gefühlswelt von Muslimen im Kaukasus stimulierte, gesagt werden können. Ethnische und nationale Selbstvergewisserungen beruhen auf Abgrenzung und Ausschluß. Man muß wissen, wer man nicht ist, um ganz bei sich zu sein. Wo unterschiedliche Welten aufeinandertreffen, werden Handlungsgewohnheiten, die im Alltag kaum je auf ihren Sinn hin befragt werden, reflexiv. So wird für eine Muslimin das Kopftuch doch erst dort zu einem Symbol ethnischer Abschließung, wo sie Menschen begegnet, die es nicht tragen und die es für einen Ausdruck von Fremdheit halten. Denn wer den Anderen als Fremden erkennt, sieht in ihm sich selbst. Bilder vom Fremden sind Tauschverhältnisse, in denen sich die Kultur, in der man steht, verändert und neu schöpft. Das gilt um so mehr für jene Situationen, in denen Kulturen einander bekriegen, wie es in kolonialistischen Gesellschaften geschieht, wenn Traditionen von der Kolonialmacht kriminialisiert und marginalisiert werden. Ethnischer Gemeinschaftsglaube besteht aus einer inklusiven und einer exklusiven Komponente, oder anders gesagt: 'Ethnizität provoziert immer Gegenethnizität.' Das ist auch der Grund, warum in Nationalstaaten, die durch kulturelle Homogenisierung die Gesellschaft zu 'modernisieren' und zu standardisieren versuchen, Menschen, die ihre Fremdheit nicht ablegen mögen, marginalisiert und ausgestoßen werden. In Vielvölkerstaaten lösen solche Versuche, Eindeutigkeit herzustellen, gewöhnlich gewalttätige Sezessionsbestrebungen aus. Der Weg in die Kommunikationsgesellschaft führt keineswegs in die Assimilation, wie Connor zu bedenken gegeben hat. Wo Menschen unterschiedlicher Abkunft miteinander in Kontakt geraten, so lehre die Erfahrung, werde der Ethnonationalismus nicht überwunden, sondern aufgerüstet. Wer dem Fremden begegne, ihn näher kennenlerne, werde im Glauben an die Einzigartigkeit der eigenen Gruppe bestärkt. Hobsbawm und seine marxistischen Adepten brachten für die kulturelle Gebundenheit menschlichen Lebens kein Interesse auf. Wo sich ihnen nicht zeigte, was es auch in Europa gab, Staat, Bürokratie, zivile Gesellschaft, bürgerliche Öffentlichkeit, Verfassungen und Parlamente, vermochten sie auch nichts zu entdecken. Eric Hobsbawm fand, Ethnien verwandelten sich nur dort in Nationen, wo sie in einer historischen Verbindung mit einem gegenwärtigen Staat stünden, über eine alteingesessene Elite geböten und die 'erwiesene Fähigkeit zur Eroberung' besäßen. Es ist das Hegelsche Erbe, das aus solchen Urteilen spricht, der Glaube, im Europa der Gegenwart zeige sich jene Zukunft, die dem Rest der Welt noch bevorstehe. Die Legitimation des Abendlandes als einer überlegenen Kultur schreibt sich doch nur von einer Ideologie her, nach deren Anschauung säkularisierte Kulturen nicht säkularen Kulturen überlegen sind. Nur wer diese Ideologie akzeptiert, kommt auch zu dem Urteil, die Überlegenheit des Abendlandes sei eine objektive Wertung. Das Mißverständnis, eine Nation sei nur, was sich in europäischer Verpackung als solche zu erkennen gibt, führt auf Holzwege, die keine Auswege mehr weisen. Kaukasusrepublik In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt u.
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Jörg Baberowski (Autor)

Der Feind ist überall: Stalinismus im Kaukasus [Gebundene Ausgabe] Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Zeitgeschichte islamische Kaukasusrepubliken Bolschewiki von (2003)

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Deutsche Verlags-Anstalt, 2003. 2003. Hardcover. 22,7 x 15,9 x 4,8 cm. In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt und Tübingen gemeinsam verbrachte. Vieles, was in und zwischen den Zeilen steht, geht auf ihre Anregungen zurück. Für Zuspitzungen und Provokationen, ohne die dieser Text nicht auskommen konnte, bin ich selbst verantwortlich. Dietrich Geyer, der sich der Mühe unterzog, das ganze Manuskript zu lesen, danke ich für seine hilfreiche Kritik und die zahlreichen, anregenden Gespräche, die uns immer wieder zusammenführten. Ingrid Schierle und Margit Schneider sei Dank gesagt für die freundliche Atmosphäre, die sie im Tübinger Institut verbreiteten, Eberhard Müller, daß er nicht darin nachließ, die philosophische Dimension des historischen Arbeitens in Erinnerung zu rufen. Manfred Hildermeier, Dieter Langewiesche, Udo Sautter und Martin Zimmermann lasen das Manuskript als Gutachter. Ihre Kritik half mir, über die Konzeption des Buches neu nachzudenken. Michael Hochgeschwender schulde ich Dank für die gemeinsam veranstalteten Seminare, die mir die Welt jenseits des Atlantiks näherbrachten und die Sicht auf meinen eigenen Gegenstand schärften. Ohne die Hilfe von Maike Lehmann, die den gesamten Text durchsah, Fehler ausbesserte und Redundanzen beseitigte, wäre ich wahrscheinlich nie ans Ende gekommen. Auch ihr gilt mein herzlicher Dank. Claudia Weber, Susanne Schattenberg und Malte Rolf, meinen Kollegen in Leipzig und Berlin, danke ich für anregende Gespräche und die emotionale Unterstützung, die sie mir in den letzten zwei Jahren zuteil werden ließen. Mehr als sie es wahrscheinlich ahnen, haben mich die Studenten am Historischen Seminar der Universität Leipzig inspiriert. Sie gaben mir die Gewißheit, keiner nutzlosen Sache das Wort zu reden. In Petersburg half mir Vladimir V. Lapin, als er noch Direktor des Rußländischen Staatlichen Historischen Archivs war, mich im Dickicht der Dokumente zurechtzufinden. Niemand aber hat darin einen größeren Verdienst als Andrej Doronin, für dessen Aufopferung und Freundschaft Worte zu klein sind. Ohne seine Hilfe hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Dank sei auch den Mitarbeitern des Staatlichen Historischen Archivs der Republik Azerbajdzan in Baku, Zimma Babaeva und Fikret Aliev gesagt, die trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen sie leben und arbeiten mußten, alles taten, um mir bei meinen Nachforschungen zu helfen. Monika Schunder, Franziska Exeler, Manuela Putz und Natalja Stüdemann halfen bei der Anfertigung des Registers und hielten mich in meinem ersten Semester in Berlin bei guter Laune. Auch ihnen gilt mein herzlicher Dank. Daß aus dem Manuskript ein schönes Buch wurde, verdanke ich Stefan Ulrich Meyer von der Deutschen Verlags-Anstalt. Er opferte seine Weihnachtsferien, um aus einem wissenschaftlichen Buch ein lesbares zu machen. Ohne die Liebe meiner Frau Shiva aber wäre alles nichts. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Berlin, Mai 2003 Einleitung 'Der Feind ist überall. Der Feind ist im Kino, im Theater, in den Lehranstalten, in der Literatur, in den Behörden, in der Lebensweise, an allen Ecken und Enden gibt es feindliche Elemente.' Mit diesen Worten beschrieb der erste Sekretär der Azerbajdzanischen Kommunistischen Partei Ali Hejdar Karaev, wie er über die Wirklichkeit dachte, als er am 9. März 1929 zu den Delegierten des neunten Parteitages über die Kulturrevolution im sowjetischen Orient sprach. Wo Differenz und Ambivalenz, die Pluralität von Lebensstilen aufschienen, zeigte sich ihm nicht nur abweichendes Verhalten. Hier wurden für ihn Feinde, die sich in der Lebensweise der Untertanen verbargen, ans Licht der Welt gebracht. Es war die Aufgabe der Kommunisten, diese Feinde zu beseitigen. Macht ist eine Wirkung, die in Netzen zirkuliert, im Medium der Sprache, des Rituals und des Symbols. Macht tritt aber nur dort als Wirkung auf, wo sie sich in der Lebenspraxis des Alltags von selbst zur Anwendung bringt, wo sie nicht nur erduldet, sondern auch weitergegeben wird. Der totalitäre Entwurf lebte von der Vorstellung einer Macht, die alle Zweige des Gesellschaftskörpers durchströmte und in Bewegung hielt, Menschen beseelte und veränderte. Denn dort, wo die Macht 'an die Individuen rührt, ihre Körper ergreift, in ihre Gesten, in ihre Einstellungen, ihre Diskurse, ihr Lernen, ihr alltägliches Leben eindringt', konnte sich Fremdzwang in Selbstdisziplinierung verwandeln. 'Die Macht geht durch das Individuum, das sie konstituiert hat, hindurch', so hat Foucault zu bedenken gegeben. Macht war kein bloßer Reflex der Produktionsverhältnisse. Es waren die Bolschewiki selbst, die dem soziologischen Reduktionismus eine Absage erteilten. Die bolschewistische Unterstellung, im Verlauf der Geschichte werde der Mensch durch wahres Wissen zu sich selbst finden und mit der Entfremdung auch die Geschichte aufheben, schöpfte aus dem messianischen Sendungsbewußtsein der Revolutionäre. In diesem Sinn war der Bolschewismus eine säkularisierte Erlösungsideologie, die Partei sein Messias. Das Proletariat war keine soziologische Kategorie, sondern ein 'fortgeschrittener' Bewußtseinszustand. Proletarier zu sein, hieß, die Sprache der Bolschewiki zu sprechen, ihre Kleidung zu tragen und ihre Feste zu feiern. Nur so wird der Eifer verständlich, mit dem die neuen Machthaber allenthalben die Einübung von Diskursen, Praktiken, Moden und Attitüden, die Erziehung des neuen Menschen betrieben. Wo es gelang, die Kultur des neuen Menschen in die Alltagsrituale und den Sprachstil der Untertanen einzupflanzen, zeigte sich den Bolschewiki der Triumph ihrer Mission. Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Macht formiert sich stets gegen Widerstände, und sie zeigt sich auch nur dort, wo Widerstand aufscheint. Sie kann sich weder totalisieren noch selbst kontrollieren. Es ist das hinter Masken verborgene Individuum, das dem Disziplinierungsentwurf der Herrschaft seinen Eigensinn entgegensetzt, die Macht herausfordert und sich so stets neu konstituiert. In der frühen Sowjetunion zeigten sich die Wirkungen der bolschewistischen Macht nur ausnahmsweise, im städtischen Milieu der Intelligenz. Im Abseits, in den Dörfern und an der Peripherie des Imperiums, blieben die Ansprüche der Revolutionäre unvermittelt. Hier koexistierten parallele Netze der Macht, die einander nicht berührten. Für die Bolschewiki symbolisierte die Vielfalt nicht miteinander verbundener Unterwerfungstechniken Unordnung, Anarchie und Barbarei. Die moderne Welt, so wie die Bolschewiki sie verstanden, war übersichtlich und eindeutig. In ihr konnte es nur eine Technik der Auslegung und der Disziplinierung geben, und diese vertraten die neuen Machthaber selbst. Es ist stets übersehen worden, daß der stalinistische Terror aus einem Denkstil schöpfte, der menschliches Handeln in eine Teleologie der Erlösung einordnete und Ambivalenz als Widerstand von Feinden deutete. Und diese Deutung ergab sich aus der Konfrontation eschatologischer Heilserwartungen mit widerständigen Realitäten. Denn es mißlang den Bolschewiki, in der Unterwerfung konkurrierender Weltauslegungen eine Sprachlosigkeit herzustellen, die 'durch ihr eigenes Stummbleiben Schweigen gebietet'. Die hegemoniale Kultur übte keine Wirkung aus. Sie konnte die Kultur der Untertanen in der öffentlichen Inszenierung ihrer Ansprüche marginalisieren, aber sie vermochte sie nicht zu überwinden. Und deshalb zeigte sich in den Beziehungsnetzen des Alltags auch nicht die Macht des kommunistischen Diskurses. Die hegemoniale Kultur war ein hermetisches Bedeutungsgeflecht, das nicht über sich hinauswies und in dem die Bolschewiki heillos verfangen blieben. Was ein kultureller Austausch hätte werden können, wurde unter diesen Bedingungen zu einem Zwangsumtausch, der den Unterworfenen abverlangte, sich ihrer Kultur vollständig zu entledigen. Man könnte, was Karaev als Verhältnis von Feinden beschrieb, auch als verfehlte Zusammenkunft oder als Dialog zwischen Tauben bezeichnen." 'Es sind die undurchschauten Vorurteile, deren Herrschaft uns gegen die in der Überlieferung sprechende Sache taub macht', wie es Gadamer gesagt hat. Die Bolschewiki standen in einer Tradition, die ihre eigenen Vorurteile als voraussetzungslose Traditionslosigkeit ausgab. Dieses Denken, das vom Erbe der Auflärung mehr enthält, als mancher glaubt, unterstellte, die Welt könne vorurteilsfrei angeschaut und ihrer Mythen entkleidet werden. Wer nicht sah, was auch die Aufklärer sahen, bewies nur, daß er im Reich der Finsternis lebte. Je rückständiger und fremder sich die Umwelt in der Wahrnehmung der Bolschewiki präsentierte, desto größer war die Bereitschaft, sie mit Gewalt von ihrem Leiden an der Unvollkommenheit zu erlösen, Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. In seiner extremsten, bolschewistischen Variante triumphierte das Verlangen nach Eindeutigkeit und Homogenität in blutigem Terror. 'Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens, ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren - und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte. Intoleranz ist deshalb die natürliche Neigung der modernen Praxis. Konstruktion von Ordnung setzt der Eingliederung und der Zulassung Grenzen. Sie verlangt nach der Verneinung der Rechte - und der Gründe - all dessen, was nicht assimiliert werden kann - nach der Delegitimierung des Anderen', wie Zygmunt Bauman über das moderne Streben nach Eindeutigkeit geurteilt hat. Die Bolschewiki brachten ihre zivilisatorische Mission nicht aus dem Nichts hervor. Sie setzten fort, was ihre Vorgänger in der zarischen Bürokratie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Werk gesetzt hatten. Nur wäre es den Bürokraten des Zaren in ihrem Bemühen, Europa nach Rußland zu bringen und Lebensverhältnisse zu 'zivilisieren', nicht in den Sinn gekommen, die Barbarei mit den Mitteln der Barbarei aus der Welt zu schaffen. Sie wollten die 'Wilden' stattdessen durch aufgeklärtes Zureden vom Leiden an der Rückständigkeit erlösen. Die Bolschewiki indessen erlagen dem Wahn, es müßten Feinde vernichtet werden, um kulturelle Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. So aber führte der Kulturkonflikt in die unablässige Terrorisierung von Lebensverhältnissen. Der Stalinismus brachte sich aus dem Konflikt zwischen unverstandenen Welten hervor, im Zentrum wie an der Peripherie. Er war ein Zivilisationstyp, der im gewalttätigen Versuch, kulturelle Renitenz zu überwinden, zu sich kam. Das ist es, was Karaev meinte, als er davon sprach, der Feind zeige sich in der Lebensweise des Alltags. Darin lag die zerstörerische Potenz der stalinistischen Gewaltherrschaft: daß sie an der Stabilität der Lebensverhältnisse keinen Gefallen fand. Sie erschöpfte sich stattdessen in der unablässigen Terrorisierung der Bevölkerung, in der Zerstörung von Ordnung. Der Stalinismus war deshalb nicht die Überwindung einer 'schönen' Utopie, wie Richard Stites in seinem Buch über die revolutionären Träume in der frühen Sowjetunion behauptet hatte, sondern ihre eigentliche Vollstreckung. Was hier zur Sprache kommt, handelt von den kulturellen Ursprüngen des stalinistischen Terrors, wie er die Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre prägte. Ich beschränke mich darauf, diesen Zusammenhang exemplarisch, am Beispiel jener Auseinandersetzung zu beschreiben, die sich zwischen den Ordnungen des bolschewistischen Sozialismus und den Lebenswelten von Muslimen in der Kaukasusrepublik Azerbajdzan entfalteten. Warum Azerbajdzan? Was fernab des Moskauer Zentrums, jenseits des Großen Kaukasusgebirges geschah, sei doch nur eine Marginalie, die eine Erwähnung nicht lohne, so könnte man einwenden. Wer so spricht, verkennt jedoch, daß die Bedeutung eines Gegenstandes aus der Frage kommt, die Historiker an ihn richten. So ist es auch hier. Das Zarenreich und die Sowjetunion waren Vielvölkerreiche, an ihren südlichen Rändern im Kaukasus und in Zentralasien lebten mehrere Millionen Muslime sunnitischen und schiitischen Glaubens. Das Imperium beherbergte mehr als hundert Sprachen und Dialekte, seßhafte und nomadische, städtische und ländliche Lebensformen. Kurz: Das Sowjetimperium bestand nicht allein aus Russen und Slawen, auch wenn dieser Eindruck in der Geschichtsschreibung über das Zarenreich und die Sowjetunion bisweilen erweckt wird. Niemand, weder die zarischen Bürokraten noch ihre bolschewistischen Nachfolger, konnten in ihren politischen Entscheidungen von dieser Vielfalt der Ethnien, Sprachen und Kulturen absehen. Industrialisierung, Verstädterung und Kommunikationsverdichtung brachten Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion miteinander in Berührung. Vielerorts entfachten solche Kontakte Konflikte. Und wo die Staatsgewalt ihren Phantasien von der modernen Welt keine Zügel anlegte, geriet sie am Ende selbst in einen Gegensatz zu jenen, die sie 'russifizieren', zivilisieren oder aufklären wollte. An keinem anderen Ort zeigten sich die Konflikte des Vielvölkerreiches so unerbittlich wie in den muslimischen Kaukasus-Gouvernements Baku und Elizavetpol', die 1918 zur Republik Azerbajdzan verschmolzen. Die östlichen Territorien Transkaukasiens waren ethnisch und religiös heterogen, in ihren Städten lebten Muslime und Christen, Armenier, Türken und Russen neben- und miteinander. Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfaßte die Industrialisierung auch den Rand des Imperiums. Der Olboom verwandelte Baku, das städtische Zentrum der Region, in eine multiethnische Metropole, die sich aus dem Umland heraushob. Jenseits des städtischen Raumes standen seßhafte Bauern gegen Nomaden, Muslime gegen russische Siedler, Sunniten gegen Schiiten, Tal gegen Tal, Clan gegen Clan. Mit der Ankunft des Zentralstaates in der Region verwandelte sich diese in ein Experimentierfeld, auf dem die aufgeklärten Bürokraten des Zaren ihre Vorstellungen von der modernen Welt verwirklichen wollten. Mit den Beamten des Zaren kamen auch das europäische Recht, die Verwaltung, das Bildungswesen und die mit ihnen verbundenen Wertmaßstäbe an die Peripherie. Weil aber die Einheimischen solcher Bevormundung Widerstand entgegenbrachten, wurde, was als Projekt der Zivilisierung und Modernisierung auftrat, zu einer Diskriminierung und Zurücksetzung der Muslime. Wo Lebensformen kategorisiert und hierarchisiert wurden, traten sie einander nur noch als Ausschließlichkeit entgegen. So war es vor allem in Baku. Die Industriestadt am Kaspischen Meer verwandelte sich in einen Ort der Differenz, der nationalen, religiösen und sozialen Konflikte, die das 20. Jahrhundert beherrschten. Baku wurde zu einem Laboratorium der Xenophobie und der interethnischen Gewalt. Außerhalb der Städte löste die aufgeklärte Ignoranz, das Unverständnis, mit der die Bürokraten des Zaren ebenso wie die Kommunisten den Bauern gegenübertraten, blutige Konflikte aus, die sie am Ende nicht mehr unter ihre Kontrolle brachten. All jene Kulturkonflikte, Gewaltorgien und Katastrophen, wie sie die Sowjetunion der Stalin-Ära auszeichneten - hier liefen sie an einem Ort und zur gleichen Zeit zusammen. Nirgendwo sonst koexistierten die sozialen und kulturellen Zuschreibungen, Lebens- und Wirtschaftsformen, aus denen das Imperium bestand, auf solch kleinem Raum. Azerbajdzan repräsentierte das Imperium en miniature, alle Elemente, die dem Zarenreich und der Sowjetunion Spannung verliehen, waren hier vereint. Stalin und zahlreiche seiner engsten Mitstreiter und Gefolgsleute kamen aus der Kaukasusregion. Berija, Bagirov, Ordzonikidze, Mirzojan, Gikalo, Mikojan und die russischen 'Kaukasier', zu denen neben anderen vor allem Kirov gehörte, waren zweifellos die bedeutendsten Exponenten dieses Netzes. Mit ihnen ergriffen auch die Gewaltkultur der kaukasischen Peripherie, die Blutrache und archaische Vorstellungen von Ehre Besitz von der Partei, im Zentrum wie an den Rändern des Imperiums. So vermischte sich der Gewaltkult der Revolution mit den Gewalttraditionen jener Gesellschaften, die die Bolschewiki aus der Welt schaffen wollten. In den zentralasiatischen und kaukasischen Randzonen des Vielvölkerreiches wurden die Gewaltexzesse, wie sie in den 1930er Jahren in der gesamten Sowjetunion tobten, bereits früh eingeübt. Denn hier trafen die Bolschewiki auf eine Resistenz, die sie nur mit Waffengewalt brechen zu können glaubten. Manche jener bolschewistischen Terroristenkarrieren hatten an der asiatischen Peripherie ihren Ausgang genommen. Als Zivilisationstyp ist der Stalinismus nur in seiner imperialen Dimension verstehbar. Von ihr abzusehen, hieße, den Kontext aus dem Blick zu verlieren, aus dem sich die monströse Gewalt hervorbrachte. Das ist es, was eine Geschichte des Stalinismus im Kaukasus rechtfertigt. Eine Geschichte, die den kulturellen Ursprüngen des Stalinismus auf der Spur ist, begibt sich auf neue Wege. Bislang wurde das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in der westlichen wie der sowjetisch/ russischen Historiographie als Prozeß linearer Modernisierung beschrieben. Die Bolschewiki trafen demnach auf eine rückständige Peripherie und unterwarfen sie notwendiger Modernisierung. Eine solche Einschätzung wird man aber nur dann gewinnen, wenn die Maßstäbe für das Moderne, für das schlechthin Bessere aus den Ansprüchen der Kolonisierer gewonnen werden. Und das ist auch der Grund, warum die Geschichtsschreibung über die Erfahrungen, die vom hegemonialen Diskurs der Bolschewiki verdeckt wurden, Schweigen bewahrt. Sie sprach entweder von der Nationalitätenpolitik des Zentrums oder von den nationalen Programmen islamischer Eliten. Nun erwuchs die koloniale Strategie ebenso wie die Resistenz, die sich ihr entgegenwarf, aus der Begegnung. Wo Fremde einander näherkamen, veränderten sich ihre Vorstellungen vom Anderen. Was ein Russe, ein Armenier, Türke oder Muslim sei, diese Frage mußte im Blick auf das Andere stets neu gestellt und beantwortet werden. Davon aber konnte man in der historischen Literatur über das Zarenreich und die Sowjetunion - von Ausnahmen abgesehen, die sich auf das Zarenreich, nicht aber auf die Sowjetunion bezogen - nur wenig finden. Es waren nicht zuletzt Eric Hobsbawm, Benedict Anderson und Ernest Gellner, die mit ihren teleologischen und eurozentrischen Nationalismusmodellen den Blick der Historiker trübten. In den 1980er und frühen 1990er Jahren warteten sie in unterschiedlichen Varianten mit der Entdeckung auf, Traditionen seien menschliche Schöpfungen (inventions of tradition), Nationen vorgestellte Gemeinschaften (imagined communities). Gellner verstieg sich am Ende zu der Behauptung, die 'kulturellen Fetzen und Flicken, derer sich der Nationalismus bedient', seien nichts weiter als 'willkürliche historische Erfindungen'. 'Jeder beliebige alte Fetzen und Flicken hätte die gleichen Dienste getan.' Anderson sah die Nation als 'eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung einer Gemeinschaft existiert.' Als solche ist sie ein modernes Phänomen, sie ist an die Fähigkeit ihrer Mitglieder gebunden, miteinander über größere Räume hinweg zu kommunizieren und Glaubensbekenntnisse durch Wiederholung alltäglicher Rituale wachzuhalten. Nun spricht aber durch die Texte der Konstruktivisten vor allem die Sehnsucht nach der Überwindung von Nationen hindurch, nach der Widerlegung jener Vorstellung, Nationen seien urwüchsige, über Jahrhunderte bestehende und keinem Wandel unterworfene Gemeinschaften von Gleichgesinnten, deren Glaubenssätze die Wirklichkeit abbildeten. 'Daß Nationen als eine natürliche, gottgegebene Art der Klassifizierung von Menschen gelten - als ein politisches Geschick - ist ein Mythos. Der Nationalismus, der manchmal bereits bestehende Kulturen in Nationen umwandelt, erfindet manchmal Kulturen und vernichtet häufig tatsächlich bestehende Kulturen', wie Gellner es ausgedrückt hat. Zuerst: jede Gemeinschaft, die über einen vis a vis-Kontakt zwischen Menschen hinausreicht, ist vorgestellt. Denn was ist Religion, Stand, Klasse anderes als eine vorgestellte Gemeinschaft, die Menschen vor Stabilitätsverlusten bewahrt. Dann: Menschen sind in Bedeutungsnetzen, symbolischen Ordnungen verfangen, mit deren Hilfe sie ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen ordnen und Struktur in das Chaos des Alltags bringen. Der Mensch entkommt seinen Erfindungen nicht. Er lebt in einem symbolischen Universum, in Sprache, Mythos, Kunst und Religion, seine Erfahrungen sind in ein Symbolnetz eingewebt, aus dem er sich nicht nach Belieben hinausbegeben kann. 'Statt mit den Dingen, hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizelle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.' So hat es der Kulturphilosoph Ernst Cassirer in seinem Traktat über den Menschen 1944 formuliert. Die Behauptung also, die Konstruktion von Nationen beruhe auf Mythen, besagt, daß jenseits der Mythen eine objektive Realität existiere, die von den Nationalisten verzerrt werde. Ein solcher Objektivismus ist freilich nichts weiter als ein vergebliches Unterfangen, die Welt von nirgendwo zu sehen. Zur Beantwortung der Frage, warum und in welchen Formen Menschen sich ihrer selbst vergewissern, trägt diese Suche nach Authentizität nichts bei. Um es mit einem anderen Beispiel zu sagen: Ob der Gott der jüdisch-christlichen Überlieferung existiert oder nicht existiert, ist völlig gleichgültig gegenüber der Tatsache, in welchem Ausmaß die Vorstellung Gottes das Handeln und die Geschichte von Menschen bestimmt hat. Der Politikwissenschaftler Walker Connor verband diese Einsicht mit einer allgemeinen Theorie über Nationswerdung. In ihr sprach er vom Vorrang der Selbstidentifikation gegenüber scheinbar objektiven Kriterien wie Sprache, Territorium usw. Das Selbstbild sei es, die subjektive Selbstbindung des Einzelnen an eine Gruppe und sein Glaube, ihr und keiner anderen anzugehören, aus der sich die Nation hervorbringe. Daß Gemeinschaften konstruiert seien, spreche nicht gegen ihre Existenz: 'What ultimately matters is not what is but what people believe is.' Kurz: Die Dämonisierung der Nation, die aus den Texten der Konstruktivisten auch spricht, ergibt sich aus einem Verfahren, das die Symbolwelten, die nationale Gemeinschaften konstituieren, zu willkürlichen Konstruktionen von Nationalisten erklärt. Nationen sind aber keine Fata Morgana, die sich durch richtige Reflexion wieder auflösen, sie bestehen, solange ihre Mythen im Bewußtsein von Menschen verankert sind und für wahr gehalten werden. 'Traditions may be invented, but they only last if they have resonance.' Handlungsgewohnheiten wurzeln in bereits bestehenden Traditionen, in gemeinsamen Erinnerungen, die nicht willkürlich aus den Menschen durch Agitation hervorgebracht werden können. Der Kulturanthropologe Clifford Geertz sprach von primordialen Codes, von den in der frühen Kindheit vermittelten Gefühlen der Zugehörigkeit zu den nächsten Verwandten, zu einer bestimmten Religion, zu einer besonderen Sprache, zu spezifischen Normen und Bräuchen oder auch zu jener umgrenzten und überschaubaren Örtlichkeit, die man im Deutschen Heimat nennt. Diese Bindungen, so hat Geertz zu bedenken gegeben, seien stärker als jene, die Menschen in späteren Lebensphasen eingehen: Jene aus wirtschaftlichen Interessen und politischen Überzeugungen. Es ist der Appell an diese Gefühle und affektiv besetzten Bindungen, die den Erfolg ethnischer oder nationaler Vergemeinschaftung ermöglichen. Niemand hat diese affektiven Bindungen schöner beschrieben als Alain Corbin in seinem Buch über die Sprache der Glocken im Frankreich des 19. Jahrhunderts. 'Das Lesen der klanglichen Umwelt war damals ein Teil des Prozesses, in dem die Identität, die individuelle wie die kommunitaristische, hergestellt wurde. Das Glockenläuten war die Sprache eines Kommunikationssystems, das nach und nach zerfallen ist. Es regelte nach einem heute vergessenen Rhythmus die Beziehungen zwischen den Menschen sowie die zwischen den Lebenden und den Toten.' Die Amtsträger des französischen Staates hatten die Bedeutung dieses Identifikationssymbols erfaßt, als sie damit begannen, über die Glocke 'als Stimme einer Zentralgewalt zu gebieten, die vom Zentrum des Landes nach allen Seiten ausstrahlte'. Indem der Staat sie für eigene Zwecke instrumentalisierte und das Glockengeläut im weltlichen Kalender verankerte, stellte er das Gedenken in eine neue Tradition. Was Corbin über die Glocken im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts verkündete, hätte auch über den Gebetsruf des Muezzin, der die Gefühlswelt von Muslimen im Kaukasus stimulierte, gesagt werden können. Ethnische und nationale Selbstvergewisserungen beruhen auf Abgrenzung und Ausschluß. Man muß wissen, wer man nicht ist, um ganz bei sich zu sein. Wo unterschiedliche Welten aufeinandertreffen, werden Handlungsgewohnheiten, die im Alltag kaum je auf ihren Sinn hin befragt werden, reflexiv. So wird für eine Muslimin das Kopftuch doch erst dort zu einem Symbol ethnischer Abschließung, wo sie Menschen begegnet, die es nicht tragen und die es für einen Ausdruck von Fremdheit halten. Denn wer den Anderen als Fremden erkennt, sieht in ihm sich selbst. Bilder vom Fremden sind Tauschverhältnisse, in denen sich die Kultur, in der man steht, verändert und neu schöpft. Das gilt um so mehr für jene Situationen, in denen Kulturen einander bekriegen, wie es in kolonialistischen Gesellschaften geschieht, wenn Traditionen von der Kolonialmacht kriminialisiert und marginalisiert werden. Ethnischer Gemeinschaftsglaube besteht aus einer inklusiven und einer exklusiven Komponente, oder anders gesagt: 'Ethnizität provoziert immer Gegenethnizität.' Das ist auch der Grund, warum in Nationalstaaten, die durch kulturelle Homogenisierung die Gesellschaft zu 'modernisieren' und zu standardisieren versuchen, Menschen, die ihre Fremdheit nicht ablegen mögen, marginalisiert und ausgestoßen werden. In Vielvölkerstaaten lösen solche Versuche, Eindeutigkeit herzustellen, gewöhnlich gewalttätige Sezessionsbestrebungen aus. Der Weg in die Kommunikationsgesellschaft führt keineswegs in die Assimilation, wie Connor zu bedenken gegeben hat. Wo Menschen unterschiedlicher Abkunft miteinander in Kontakt geraten, so lehre die Erfahrung, werde der Ethnonationalismus nicht überwunden, sondern aufgerüstet. Wer dem Fremden begegne, ihn näher kennenlerne, werde im Glauben an die Einzigartigkeit der eigenen Gruppe bestärkt. Hobsbawm und seine marxistischen Adepten brachten für die kulturelle Gebundenheit menschlichen Lebens kein Interesse auf. Wo sich ihnen nicht zeigte, was es auch in Europa gab, Staat, Bürokratie, zivile Gesellschaft, bürgerliche Öffentlichkeit, Verfassungen und Parlamente, vermochten sie auch nichts zu entdecken. Eric Hobsbawm fand, Ethnien verwandelten sich nur dort in Nationen, wo sie in einer historischen Verbindung mit einem gegenwärtigen Staat stünden, über eine alteingesessene Elite geböten und die 'erwiesene Fähigkeit zur Eroberung' besäßen. Es ist das Hegelsche Erbe, das aus solchen Urteilen spricht, der Glaube, im Europa der Gegenwart zeige sich jene Zukunft, die dem Rest der Welt noch bevorstehe. Die Legitimation des Abendlandes als einer überlegenen Kultur schreibt sich doch nur von einer Ideologie her, nach deren Anschauung säkularisierte Kulturen nicht säkularen Kulturen überlegen sind. Nur wer diese Ideologie akzeptiert, kommt auch zu dem Urteil, die Überlegenheit des Abendlandes sei eine objektive Wertung. Das Mißverständnis, eine Nation sei nur, was sich in europäischer Verpackung als solche zu erkennen gibt, führt auf Holzwege, die keine Auswege mehr weisen. 0.
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Jörg Baberowski (Autor)

Der Feind ist überall: Stalinismus im Kaukasus [Gebundene Ausgabe] Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Zeitgeschichte islamische Kaukasusrepubliken Bolschewiki von (2003)

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Deutsche Verlags-Anstalt: Deutsche Verlags-Anstalt, 2003. 2003. Hardcover. 22,7 x 15,9 x 4,8 cm. In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher Kollegen und Freunde nicht geschrieben werden können. Dieter Beyrau und Klaus Gestwa lasen und kritisierten nicht nur, was ich zu Papier brachte. Sie waren gute Freunde, über mehr als zehn Jahre, die ich mit ihnen in Frankfurt und Tübingen gemeinsam verbrachte. Vieles, was in und zwischen den Zeilen steht, geht auf ihre Anregungen zurück. Für Zuspitzungen und Provokationen, ohne die dieser Text nicht auskommen konnte, bin ich selbst verantwortlich. Dietrich Geyer, der sich der Mühe unterzog, das ganze Manuskript zu lesen, danke ich für seine hilfreiche Kritik und die zahlreichen, anregenden Gespräche, die uns immer wieder zusammenführten. Ingrid Schierle und Margit Schneider sei Dank gesagt für die freundliche Atmosphäre, die sie im Tübinger Institut verbreiteten, Eberhard Müller, daß er nicht darin nachließ, die philosophische Dimension des historischen Arbeitens in Erinnerung zu rufen. Manfred Hildermeier, Dieter Langewiesche, Udo Sautter und Martin Zimmermann lasen das Manuskript als Gutachter. Ihre Kritik half mir, über die Konzeption des Buches neu nachzudenken. Michael Hochgeschwender schulde ich Dank für die gemeinsam veranstalteten Seminare, die mir die Welt jenseits des Atlantiks näherbrachten und die Sicht auf meinen eigenen Gegenstand schärften. Ohne die Hilfe von Maike Lehmann, die den gesamten Text durchsah, Fehler ausbesserte und Redundanzen beseitigte, wäre ich wahrscheinlich nie ans Ende gekommen. Auch ihr gilt mein herzlicher Dank. Claudia Weber, Susanne Schattenberg und Malte Rolf, meinen Kollegen in Leipzig und Berlin, danke ich für anregende Gespräche und die emotionale Unterstützung, die sie mir in den letzten zwei Jahren zuteil werden ließen. Mehr als sie es wahrscheinlich ahnen, haben mich die Studenten am Historischen Seminar der Universität Leipzig inspiriert. Sie gaben mir die Gewißheit, keiner nutzlosen Sache das Wort zu reden. In Petersburg half mir Vladimir V. Lapin, als er noch Direktor des Rußländischen Staatlichen Historischen Archivs war, mich im Dickicht der Dokumente zurechtzufinden. Niemand aber hat darin einen größeren Verdienst als Andrej Doronin, für dessen Aufopferung und Freundschaft Worte zu klein sind. Ohne seine Hilfe hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Dank sei auch den Mitarbeitern des Staatlichen Historischen Archivs der Republik Azerbajdzan in Baku, Zimma Babaeva und Fikret Aliev gesagt, die trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen sie leben und arbeiten mußten, alles taten, um mir bei meinen Nachforschungen zu helfen. Monika Schunder, Franziska Exeler, Manuela Putz und Natalja Stüdemann halfen bei der Anfertigung des Registers und hielten mich in meinem ersten Semester in Berlin bei guter Laune. Auch ihnen gilt mein herzlicher Dank. Daß aus dem Manuskript ein schönes Buch wurde, verdanke ich Stefan Ulrich Meyer von der Deutschen Verlags-Anstalt. Er opferte seine Weihnachtsferien, um aus einem wissenschaftlichen Buch ein lesbares zu machen. Ohne die Liebe meiner Frau Shiva aber wäre alles nichts. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Berlin, Mai 2003 Einleitung 'Der Feind ist überall. Der Feind ist im Kino, im Theater, in den Lehranstalten, in der Literatur, in den Behörden, in der Lebensweise, an allen Ecken und Enden gibt es feindliche Elemente.' Mit diesen Worten beschrieb der erste Sekretär der Azerbajdzanischen Kommunistischen Partei Ali Hejdar Karaev, wie er über die Wirklichkeit dachte, als er am 9. März 1929 zu den Delegierten des neunten Parteitages über die Kulturrevolution im sowjetischen Orient sprach. Wo Differenz und Ambivalenz, die Pluralität von Lebensstilen aufschienen, zeigte sich ihm nicht nur abweichendes Verhalten. Hier wurden für ihn Feinde, die sich in der Lebensweise der Untertanen verbargen, ans Licht der Welt gebracht. Es war die Aufgabe der Kommunisten, diese Feinde zu beseitigen. Macht ist eine Wirkung, die in Netzen zirkuliert, im Medium der Sprache, des Rituals und des Symbols. Macht tritt aber nur dort als Wirkung auf, wo sie sich in der Lebenspraxis des Alltags von selbst zur Anwendung bringt, wo sie nicht nur erduldet, sondern auch weitergegeben wird. Der totalitäre Entwurf lebte von der Vorstellung einer Macht, die alle Zweige des Gesellschaftskörpers durchströmte und in Bewegung hielt, Menschen beseelte und veränderte. Denn dort, wo die Macht 'an die Individuen rührt, ihre Körper ergreift, in ihre Gesten, in ihre Einstellungen, ihre Diskurse, ihr Lernen, ihr alltägliches Leben eindringt', konnte sich Fremdzwang in Selbstdisziplinierung verwandeln. 'Die Macht geht durch das Individuum, das sie konstituiert hat, hindurch', so hat Foucault zu bedenken gegeben. Macht war kein bloßer Reflex der Produktionsverhältnisse. Es waren die Bolschewiki selbst, die dem soziologischen Reduktionismus eine Absage erteilten. Die bolschewistische Unterstellung, im Verlauf der Geschichte werde der Mensch durch wahres Wissen zu sich selbst finden und mit der Entfremdung auch die Geschichte aufheben, schöpfte aus dem messianischen Sendungsbewußtsein der Revolutionäre. In diesem Sinn war der Bolschewismus eine säkularisierte Erlösungsideologie, die Partei sein Messias. Das Proletariat war keine soziologische Kategorie, sondern ein 'fortgeschrittener' Bewußtseinszustand. Proletarier zu sein, hieß, die Sprache der Bolschewiki zu sprechen, ihre Kleidung zu tragen und ihre Feste zu feiern. Nur so wird der Eifer verständlich, mit dem die neuen Machthaber allenthalben die Einübung von Diskursen, Praktiken, Moden und Attitüden, die Erziehung des neuen Menschen betrieben. Wo es gelang, die Kultur des neuen Menschen in die Alltagsrituale und den Sprachstil der Untertanen einzupflanzen, zeigte sich den Bolschewiki der Triumph ihrer Mission. Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Macht formiert sich stets gegen Widerstände, und sie zeigt sich auch nur dort, wo Widerstand aufscheint. Sie kann sich weder totalisieren noch selbst kontrollieren. Es ist das hinter Masken verborgene Individuum, das dem Disziplinierungsentwurf der Herrschaft seinen Eigensinn entgegensetzt, die Macht herausfordert und sich so stets neu konstituiert. In der frühen Sowjetunion zeigten sich die Wirkungen der bolschewistischen Macht nur ausnahmsweise, im städtischen Milieu der Intelligenz. Im Abseits, in den Dörfern und an der Peripherie des Imperiums, blieben die Ansprüche der Revolutionäre unvermittelt. Hier koexistierten parallele Netze der Macht, die einander nicht berührten. Für die Bolschewiki symbolisierte die Vielfalt nicht miteinander verbundener Unterwerfungstechniken Unordnung, Anarchie und Barbarei. Die moderne Welt, so wie die Bolschewiki sie verstanden, war übersichtlich und eindeutig. In ihr konnte es nur eine Technik der Auslegung und der Disziplinierung geben, und diese vertraten die neuen Machthaber selbst. Es ist stets übersehen worden, daß der stalinistische Terror aus einem Denkstil schöpfte, der menschliches Handeln in eine Teleologie der Erlösung einordnete und Ambivalenz als Widerstand von Feinden deutete. Und diese Deutung ergab sich aus der Konfrontation eschatologischer Heilserwartungen mit widerständigen Realitäten. Denn es mißlang den Bolschewiki, in der Unterwerfung konkurrierender Weltauslegungen eine Sprachlosigkeit herzustellen, die 'durch ihr eigenes Stummbleiben Schweigen gebietet'. Die hegemoniale Kultur übte keine Wirkung aus. Sie konnte die Kultur der Untertanen in der öffentlichen Inszenierung ihrer Ansprüche marginalisieren, aber sie vermochte sie nicht zu überwinden. Und deshalb zeigte sich in den Beziehungsnetzen des Alltags auch nicht die Macht des kommunistischen Diskurses. Die hegemoniale Kultur war ein hermetisches Bedeutungsgeflecht, das nicht über sich hinauswies und in dem die Bolschewiki heillos verfangen blieben. Was ein kultureller Austausch hätte werden können, wurde unter diesen Bedingungen zu einem Zwangsumtausch, der den Unterworfenen abverlangte, sich ihrer Kultur vollständig zu entledigen. Man könnte, was Karaev als Verhältnis von Feinden beschrieb, auch als verfehlte Zusammenkunft oder als Dialog zwischen Tauben bezeichnen." 'Es sind die undurchschauten Vorurteile, deren Herrschaft uns gegen die in der Überlieferung sprechende Sache taub macht', wie es Gadamer gesagt hat. Die Bolschewiki standen in einer Tradition, die ihre eigenen Vorurteile als voraussetzungslose Traditionslosigkeit ausgab. Dieses Denken, das vom Erbe der Auflärung mehr enthält, als mancher glaubt, unterstellte, die Welt könne vorurteilsfrei angeschaut und ihrer Mythen entkleidet werden. Wer nicht sah, was auch die Aufklärer sahen, bewies nur, daß er im Reich der Finsternis lebte. Je rückständiger und fremder sich die Umwelt in der Wahrnehmung der Bolschewiki präsentierte, desto größer war die Bereitschaft, sie mit Gewalt von ihrem Leiden an der Unvollkommenheit zu erlösen, Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. In seiner extremsten, bolschewistischen Variante triumphierte das Verlangen nach Eindeutigkeit und Homogenität in blutigem Terror. 'Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens, ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren - und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte. Intoleranz ist deshalb die natürliche Neigung der modernen Praxis. Konstruktion von Ordnung setzt der Eingliederung und der Zulassung Grenzen. Sie verlangt nach der Verneinung der Rechte - und der Gründe - all dessen, was nicht assimiliert werden kann - nach der Delegitimierung des Anderen', wie Zygmunt Bauman über das moderne Streben nach Eindeutigkeit geurteilt hat. Die Bolschewiki brachten ihre zivilisatorische Mission nicht aus dem Nichts hervor. Sie setzten fort, was ihre Vorgänger in der zarischen Bürokratie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Werk gesetzt hatten. Nur wäre es den Bürokraten des Zaren in ihrem Bemühen, Europa nach Rußland zu bringen und Lebensverhältnisse zu 'zivilisieren', nicht in den Sinn gekommen, die Barbarei mit den Mitteln der Barbarei aus der Welt zu schaffen. Sie wollten die 'Wilden' stattdessen durch aufgeklärtes Zureden vom Leiden an der Rückständigkeit erlösen. Die Bolschewiki indessen erlagen dem Wahn, es müßten Feinde vernichtet werden, um kulturelle Ambivalenz in Eindeutigkeit zu verwandeln. So aber führte der Kulturkonflikt in die unablässige Terrorisierung von Lebensverhältnissen. Der Stalinismus brachte sich aus dem Konflikt zwischen unverstandenen Welten hervor, im Zentrum wie an der Peripherie. Er war ein Zivilisationstyp, der im gewalttätigen Versuch, kulturelle Renitenz zu überwinden, zu sich kam. Das ist es, was Karaev meinte, als er davon sprach, der Feind zeige sich in der Lebensweise des Alltags. Darin lag die zerstörerische Potenz der stalinistischen Gewaltherrschaft: daß sie an der Stabilität der Lebensverhältnisse keinen Gefallen fand. Sie erschöpfte sich stattdessen in der unablässigen Terrorisierung der Bevölkerung, in der Zerstörung von Ordnung. Der Stalinismus war deshalb nicht die Überwindung einer 'schönen' Utopie, wie Richard Stites in seinem Buch über die revolutionären Träume in der frühen Sowjetunion behauptet hatte, sondern ihre eigentliche Vollstreckung. Was hier zur Sprache kommt, handelt von den kulturellen Ursprüngen des stalinistischen Terrors, wie er die Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre prägte. Ich beschränke mich darauf, diesen Zusammenhang exemplarisch, am Beispiel jener Auseinandersetzung zu beschreiben, die sich zwischen den Ordnungen des bolschewistischen Sozialismus und den Lebenswelten von Muslimen in der Kaukasusrepublik Azerbajdzan entfalteten. Warum Azerbajdzan? Was fernab des Moskauer Zentrums, jenseits des Großen Kaukasusgebirges geschah, sei doch nur eine Marginalie, die eine Erwähnung nicht lohne, so könnte man einwenden. Wer so spricht, verkennt jedoch, daß die Bedeutung eines Gegenstandes aus der Frage kommt, die Historiker an ihn richten. So ist es auch hier. Das Zarenreich und die Sowjetunion waren Vielvölkerreiche, an ihren südlichen Rändern im Kaukasus und in Zentralasien lebten mehrere Millionen Muslime sunnitischen und schiitischen Glaubens. Das Imperium beherbergte mehr als hundert Sprachen und Dialekte, seßhafte und nomadische, städtische und ländliche Lebensformen. Kurz: Das Sowjetimperium bestand nicht allein aus Russen und Slawen, auch wenn dieser Eindruck in der Geschichtsschreibung über das Zarenreich und die Sowjetunion bisweilen erweckt wird. Niemand, weder die zarischen Bürokraten noch ihre bolschewistischen Nachfolger, konnten in ihren politischen Entscheidungen von dieser Vielfalt der Ethnien, Sprachen und Kulturen absehen. Industrialisierung, Verstädterung und Kommunikationsverdichtung brachten Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion miteinander in Berührung. Vielerorts entfachten solche Kontakte Konflikte. Und wo die Staatsgewalt ihren Phantasien von der modernen Welt keine Zügel anlegte, geriet sie am Ende selbst in einen Gegensatz zu jenen, die sie 'russifizieren', zivilisieren oder aufklären wollte. An keinem anderen Ort zeigten sich die Konflikte des Vielvölkerreiches so unerbittlich wie in den muslimischen Kaukasus-Gouvernements Baku und Elizavetpol', die 1918 zur Republik Azerbajdzan verschmolzen. Die östlichen Territorien Transkaukasiens waren ethnisch und religiös heterogen, in ihren Städten lebten Muslime und Christen, Armenier, Türken und Russen neben- und miteinander. Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfaßte die Industrialisierung auch den Rand des Imperiums. Der Olboom verwandelte Baku, das städtische Zentrum der Region, in eine multiethnische Metropole, die sich aus dem Umland heraushob. Jenseits des städtischen Raumes standen seßhafte Bauern gegen Nomaden, Muslime gegen russische Siedler, Sunniten gegen Schiiten, Tal gegen Tal, Clan gegen Clan. Mit der Ankunft des Zentralstaates in der Region verwandelte sich diese in ein Experimentierfeld, auf dem die aufgeklärten Bürokraten des Zaren ihre Vorstellungen von der modernen Welt verwirklichen wollten. Mit den Beamten des Zaren kamen auch das europäische Recht, die Verwaltung, das Bildungswesen und die mit ihnen verbundenen Wertmaßstäbe an die Peripherie. Weil aber die Einheimischen solcher Bevormundung Widerstand entgegenbrachten, wurde, was als Projekt der Zivilisierung und Modernisierung auftrat, zu einer Diskriminierung und Zurücksetzung der Muslime. Wo Lebensformen kategorisiert und hierarchisiert wurden, traten sie einander nur noch als Ausschließlichkeit entgegen. So war es vor allem in Baku. Die Industriestadt am Kaspischen Meer verwandelte sich in einen Ort der Differenz, der nationalen, religiösen und sozialen Konflikte, die das 20. Jahrhundert beherrschten. Baku wurde zu einem Laboratorium der Xenophobie und der interethnischen Gewalt. Außerhalb der Städte löste die aufgeklärte Ignoranz, das Unverständnis, mit der die Bürokraten des Zaren ebenso wie die Kommunisten den Bauern gegenübertraten, blutige Konflikte aus, die sie am Ende nicht mehr unter ihre Kontrolle brachten. All jene Kulturkonflikte, Gewaltorgien und Katastrophen, wie sie die Sowjetunion der Stalin-Ära auszeichneten - hier liefen sie an einem Ort und zur gleichen Zeit zusammen. Nirgendwo sonst koexistierten die sozialen und kulturellen Zuschreibungen, Lebens- und Wirtschaftsformen, aus denen das Imperium bestand, auf solch kleinem Raum. Azerbajdzan repräsentierte das Imperium en miniature, alle Elemente, die dem Zarenreich und der Sowjetunion Spannung verliehen, waren hier vereint. Stalin und zahlreiche seiner engsten Mitstreiter und Gefolgsleute kamen aus der Kaukasusregion. Berija, Bagirov, Ordzonikidze, Mirzojan, Gikalo, Mikojan und die russischen 'Kaukasier', zu denen neben anderen vor allem Kirov gehörte, waren zweifellos die bedeutendsten Exponenten dieses Netzes. Mit ihnen ergriffen auch die Gewaltkultur der kaukasischen Peripherie, die Blutrache und archaische Vorstellungen von Ehre Besitz von der Partei, im Zentrum wie an den Rändern des Imperiums. So vermischte sich der Gewaltkult der Revolution mit den Gewalttraditionen jener Gesellschaften, die die Bolschewiki aus der Welt schaffen wollten. In den zentralasiatischen und kaukasischen Randzonen des Vielvölkerreiches wurden die Gewaltexzesse, wie sie in den 1930er Jahren in der gesamten Sowjetunion tobten, bereits früh eingeübt. Denn hier trafen die Bolschewiki auf eine Resistenz, die sie nur mit Waffengewalt brechen zu können glaubten. Manche jener bolschewistischen Terroristenkarrieren hatten an der asiatischen Peripherie ihren Ausgang genommen. Als Zivilisationstyp ist der Stalinismus nur in seiner imperialen Dimension verstehbar. Von ihr abzusehen, hieße, den Kontext aus dem Blick zu verlieren, aus dem sich die monströse Gewalt hervorbrachte. Das ist es, was eine Geschichte des Stalinismus im Kaukasus rechtfertigt. Eine Geschichte, die den kulturellen Ursprüngen des Stalinismus auf der Spur ist, begibt sich auf neue Wege. Bislang wurde das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in der westlichen wie der sowjetisch/ russischen Historiographie als Prozeß linearer Modernisierung beschrieben. Die Bolschewiki trafen demnach auf eine rückständige Peripherie und unterwarfen sie notwendiger Modernisierung. Eine solche Einschätzung wird man aber nur dann gewinnen, wenn die Maßstäbe für das Moderne, für das schlechthin Bessere aus den Ansprüchen der Kolonisierer gewonnen werden. Und das ist auch der Grund, warum die Geschichtsschreibung über die Erfahrungen, die vom hegemonialen Diskurs der Bolschewiki verdeckt wurden, Schweigen bewahrt. Sie sprach entweder von der Nationalitätenpolitik des Zentrums oder von den nationalen Programmen islamischer Eliten. Nun erwuchs die koloniale Strategie ebenso wie die Resistenz, die sich ihr entgegenwarf, aus der Begegnung. Wo Fremde einander näherkamen, veränderten sich ihre Vorstellungen vom Anderen. Was ein Russe, ein Armenier, Türke oder Muslim sei, diese Frage mußte im Blick auf das Andere stets neu gestellt und beantwortet werden. Davon aber konnte man in der historischen Literatur über das Zarenreich und die Sowjetunion - von Ausnahmen abgesehen, die sich auf das Zarenreich, nicht aber auf die Sowjetunion bezogen - nur wenig finden. Es waren nicht zuletzt Eric Hobsbawm, Benedict Anderson und Ernest Gellner, die mit ihren teleologischen und eurozentrischen Nationalismusmodellen den Blick der Historiker trübten. In den 1980er und frühen 1990er Jahren warteten sie in unterschiedlichen Varianten mit der Entdeckung auf, Traditionen seien menschliche Schöpfungen (inventions of tradition), Nationen vorgestellte Gemeinschaften (imagined communities). Gellner verstieg sich am Ende zu der Behauptung, die 'kulturellen Fetzen und Flicken, derer sich der Nationalismus bedient', seien nichts weiter als 'willkürliche historische Erfindungen'. 'Jeder beliebige alte Fetzen und Flicken hätte die gleichen Dienste getan.' Anderson sah die Nation als 'eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung einer Gemeinschaft existiert.' Als solche ist sie ein modernes Phänomen, sie ist an die Fähigkeit ihrer Mitglieder gebunden, miteinander über größere Räume hinweg zu kommunizieren und Glaubensbekenntnisse durch Wiederholung alltäglicher Rituale wachzuhalten. Nun spricht aber durch die Texte der Konstruktivisten vor allem die Sehnsucht nach der Überwindung von Nationen hindurch, nach der Widerlegung jener Vorstellung, Nationen seien urwüchsige, über Jahrhunderte bestehende und keinem Wandel unterworfene Gemeinschaften von Gleichgesinnten, deren Glaubenssätze die Wirklichkeit abbildeten. 'Daß Nationen als eine natürliche, gottgegebene Art der Klassifizierung von Menschen gelten - als ein politisches Geschick - ist ein Mythos. Der Nationalismus, der manchmal bereits bestehende Kulturen in Nationen umwandelt, erfindet manchmal Kulturen und vernichtet häufig tatsächlich bestehende Kulturen', wie Gellner es ausgedrückt hat. Zuerst: jede Gemeinschaft, die über einen vis a vis-Kontakt zwischen Menschen hinausreicht, ist vorgestellt. Denn was ist Religion, Stand, Klasse anderes als eine vorgestellte Gemeinschaft, die Menschen vor Stabilitätsverlusten bewahrt. Dann: Menschen sind in Bedeutungsnetzen, symbolischen Ordnungen verfangen, mit deren Hilfe sie ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen ordnen und Struktur in das Chaos des Alltags bringen. Der Mensch entkommt seinen Erfindungen nicht. Er lebt in einem symbolischen Universum, in Sprache, Mythos, Kunst und Religion, seine Erfahrungen sind in ein Symbolnetz eingewebt, aus dem er sich nicht nach Belieben hinausbegeben kann. 'Statt mit den Dingen, hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizelle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.' So hat es der Kulturphilosoph Ernst Cassirer in seinem Traktat über den Menschen 1944 formuliert. Die Behauptung also, die Konstruktion von Nationen beruhe auf Mythen, besagt, daß jenseits der Mythen eine objektive Realität existiere, die von den Nationalisten verzerrt werde. Ein solcher Objektivismus ist freilich nichts weiter als ein vergebliches Unterfangen, die Welt von nirgendwo zu sehen. Zur Beantwortung der Frage, warum und in welchen Formen Menschen sich ihrer selbst vergewissern, trägt diese Suche nach Authentizität nichts bei. Um es mit einem anderen Beispiel zu sagen: Ob der Gott der jüdisch-christlichen Überlieferung existiert oder nicht existiert, ist völlig gleichgültig gegenüber der Tatsache, in welchem Ausmaß die Vorstellung Gottes das Handeln und die Geschichte von Menschen bestimmt hat. Der Politikwissenschaftler Walker Connor verband diese Einsicht mit einer allgemeinen Theorie über Nationswerdung. In ihr sprach er vom Vorrang der Selbstidentifikation gegenüber scheinbar objektiven Kriterien wie Sprache, Territorium usw. Das Selbstbild sei es, die subjektive Selbstbindung des Einzelnen an eine Gruppe und sein Glaube, ihr und keiner anderen anzugehören, aus der sich die Nation hervorbringe. Daß Gemeinschaften konstruiert seien, spreche nicht gegen ihre Existenz: 'What ultimately matters is not what is but what people believe is.' Kurz: Die Dämonisierung der Nation, die aus den Texten der Konstruktivisten auch spricht, ergibt sich aus einem Verfahren, das die Symbolwelten, die nationale Gemeinschaften konstituieren, zu willkürlichen Konstruktionen von Nationalisten erklärt. Nationen sind aber keine Fata Morgana, die sich durch richtige Reflexion wieder auflösen, sie bestehen, solange ihre Mythen im Bewußtsein von Menschen verankert sind und für wahr gehalten werden. 'Traditions may be invented, but they only last if they have resonance.' Handlungsgewohnheiten wurzeln in bereits bestehenden Traditionen, in gemeinsamen Erinnerungen, die nicht willkürlich aus den Menschen durch Agitation hervorgebracht werden können. Der Kulturanthropologe Clifford Geertz sprach von primordialen Codes, von den in der frühen Kindheit vermittelten Gefühlen der Zugehörigkeit zu den nächsten Verwandten, zu einer bestimmten Religion, zu einer besonderen Sprache, zu spezifischen Normen und Bräuchen oder auch zu jener umgrenzten und überschaubaren Örtlichkeit, die man im Deutschen Heimat nennt. Diese Bindungen, so hat Geertz zu bedenken gegeben, seien stärker als jene, die Menschen in späteren Lebensphasen eingehen: Jene aus wirtschaftlichen Interessen und politischen Überzeugungen. Es ist der Appell an diese Gefühle und affektiv besetzten Bindungen, die den Erfolg ethnischer oder nationaler Vergemeinschaftung ermöglichen. Niemand hat diese affektiven Bindungen schöner beschrieben als Alain Corbin in seinem Buch über die Sprache der Glocken im Frankreich des 19. Jahrhunderts. 'Das Lesen der klanglichen Umwelt war damals ein Teil des Prozesses, in dem die Identität, die individuelle wie die kommunitaristische, hergestellt wurde. Das Glockenläuten war die Sprache eines Kommunikationssystems, das nach und nach zerfallen ist. Es regelte nach einem heute vergessenen Rhythmus die Beziehungen zwischen den Menschen sowie die zwischen den Lebenden und den Toten.' Die Amtsträger des französischen Staates hatten die Bedeutung dieses Identifikationssymbols erfaßt, als sie damit begannen, über die Glocke 'als Stimme einer Zentralgewalt zu gebieten, die vom Zentrum des Landes nach allen Seiten ausstrahlte'. Indem der Staat sie für eigene Zwecke instrumentalisierte und das Glockengeläut im weltlichen Kalender verankerte, stellte er das Gedenken in eine neue Tradition. Was Corbin über die Glocken im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts verkündete, hätte auch über den Gebetsruf des Muezzin, der die Gefühlswelt von Muslimen im Kaukasus stimulierte, gesagt werden können. Ethnische und nationale Selbstvergewisserungen beruhen auf Abgrenzung und Ausschluß. Man muß wissen, wer man nicht ist, um ganz bei sich zu sein. Wo unterschiedliche Welten aufeinandertreffen, werden Handlungsgewohnheiten, die im Alltag kaum je auf ihren Sinn hin befragt werden, reflexiv. So wird für eine Muslimin das Kopftuch doch erst dort zu einem Symbol ethnischer Abschließung, wo sie Menschen begegnet, die es nicht tragen und die es für einen Ausdruck von Fremdheit halten. Denn wer den Anderen als Fremden erkennt, sieht in ihm sich selbst. Bilder vom Fremden sind Tauschverhältnisse, in denen sich die Kultur, in der man steht, verändert und neu schöpft. Das gilt um so mehr für jene Situationen, in denen Kulturen einander bekriegen, wie es in kolonialistischen Gesellschaften geschieht, wenn Traditionen von der Kolonialmacht kriminialisiert und marginalisiert werden. Ethnischer Gemeinschaftsglaube besteht aus einer inklusiven und einer exklusiven Komponente, oder anders gesagt: 'Ethnizität provoziert immer Gegenethnizität.' Das ist auch der Grund, warum in Nationalstaaten, die durch kulturelle Homogenisierung die Gesellschaft zu 'modernisieren' und zu standardisieren versuchen, Menschen, die ihre Fremdheit nicht ablegen mögen, marginalisiert und ausgestoßen werden. In Vielvölkerstaaten lösen solche Versuche, Eindeutigkeit herzustellen, gewöhnlich gewalttätige Sezessionsbestrebungen aus. Der Weg in die Kommunikationsgesellschaft führt keineswegs in die Assimilation, wie Connor zu bedenken gegeben hat. Wo Menschen unterschiedlicher Abkunft miteinander in Kontakt geraten, so lehre die Erfahrung, werde der Ethnonationalismus nicht überwunden, sondern aufgerüstet. Wer dem Fremden begegne, ihn näher kennenlerne, werde im Glauben an die Einzigartigkeit der eigenen Gruppe bestärkt. Hobsbawm und seine marxistischen Adepten brachten für die kulturelle Gebundenheit menschlichen Lebens kein Interesse auf. Wo sich ihnen nicht zeigte, was es auch in Europa gab, Staat, Bürokratie, zivile Gesellschaft, bürgerliche Öffentlichkeit, Verfassungen und Parlamente, vermochten sie auch nichts zu entdecken. Eric Hobsbawm fand, Ethnien verwandelten sich nur dort in Nationen, wo sie in einer historischen Verbindung mit einem gegenwärtigen Staat stünden, über eine alteingesessene Elite geböten und die 'erwiesene Fähigkeit zur Eroberung' besäßen. Es ist das Hegelsche Erbe, das aus solchen Urteilen spricht, der Glaube, im Europa der Gegenwart zeige sich jene Zukunft, die dem Rest der Welt noch bevorstehe. Die Legitimation des Abendlandes als einer überlegenen Kultur schreibt sich doch nur von einer Ideologie her, nach deren Anschauung säkularisierte Kulturen nicht säkularen Kulturen überlegen sind. Nur wer diese Ideologie akzeptiert, kommt auch zu dem Urteil, die Überlegenheit des Abendlandes sei eine objektive Wertung. Das Mißverständnis, eine Nation sei nur, was sich in europäischer Verpackung als solche zu erkennen gibt, führt auf Holzwege, die keine Auswege mehr weisen. In den islamischen Kaukasusrepubliken erprobten die Bolschewiki erstmals jene Methoden der Unterdrückung und des Terrors, mit denen sie dann die gesamte Sowjetunion überzogen und deren menschenverachtender und menschenvernichtender Höhepunkt der Archipel Gulag war. Nach dem Sieg im russischen Bürgerkrieg reichte die Macht der Bolschewiki noch immer kaum in die unterentwickelte Peripherie des riesigen Reiches. Wie die Modernisierer des Zaren träumten auch die neuen Herrscher von der »Modernisierung« und der »Zivilisierung« des Vielvölkerimperiums. Doch im Gegensatz zu ihren Vorgängern erlagen die Bolschewiki dem Wahn, daß dabei Feinde vernichtet werden müßten. Widerstand wurde gnadenlos bekämpft. Gerade an den islamischen Südrändern der Sowjetunion wurde jener Terror eingeübt, der in den dreißiger Jahren das ganze Land erfaßte. Autor: Jörg Baberowski, geboren 1961, ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Er zählt zu den international bekannten Wissenschaftlern, die sich mit dem Stalinismus beschäftigen. Textauszüge von "Der Feind ist überall": Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. »Der Feind ist überall« ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasu Sowjetunion Stalinismus Ideologie UDSSR Sprache deutsch Maße 145 x 215 mm Einbandart gebunden Sachbuch Ratgeber Geschichte Politik Zeitgeschichte ab 1945 Bolschewismus Kaukasien Geschichte Kaukasus Sowjetunion Stalinismus Ideologie ISBN-10 3-421-05622-6 / 3421056226 ISBN-13 978-3-421-05622-1 / 9783421056221 Vorwort Dieses Buch spricht von der Gewalt: Von kommunistischen Gewalttätern und der Welt, in der sich diese Gewalt zutrug. Es möchte den kommunistischen Terror an den historischen Ort zurückbringen, aus dem er kam und in dem er sich entfaltete. Was in diesem Buch zur Sprache gebracht wird, versteht sich jedoch nicht bloß als ein Versuch, von den Exzessen des Stalinismus im Kaukasus zu erzählen, auch wenn es diese menschliche Tragödie verdiente, in ein öffentliches Bewußtsein gerückt zu werden, das vom Morden der Kommunisten nichts weiß. 'Der Feind ist überall' ist eine Kulturgeschichte, die den Gewohnheiten und Traditionen, die Menschen bewohnen, eine Sprache verleihen möchte und darin das Anliegen der Kulturgeschichte, das Leben zum Sprechen zu bringen, beim Wort nimmt. Historiker sprechen mit Menschen, deren Leben vergangen ist, und befragen sie nach den Maßstäben und dem Interesse der Gegenwart. Und sie bekommen Antworten, die ihren Fragen entsprechen. Dieses Buch versucht sich an Fragen, die Menschen der Gegenwart auf der Seele liegen. Wenn, was in diesem Buch gesagt wird, zum Verständnis des heute Unverstandenen beizutragen vermag, und wenn es den Leser unterhält, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Dieses Buch hätte ohne den Zuspruch und die Anregungen zahlreicher.
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